Aktuelles Thema:
🔺: neu
● Peter Kraus und ich! von M.H. 🔺
● Komfortzonen von Renée 🔺
● Früher war mehr Gemüse von Brigitte
● Ruinen von Rolf 🔺
● Christmas in the Drugstore by Giselle Braeuel
● Zigaretten für den Schutzmann
● Rasende Zeiten (Digitale Wunderwelten)
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Peter Kraus und ich!
Versetzen wir uns in das Jahr 1958:
Angelo Giuseppe Roncalli wird - nein, nicht was Sie jetzt denken - gewählt, und zwar zum Papst. Jetzt heißt er Johannes XXIII.! Noch eine Wahl: Charles de Gaulle wird Präsident der Fünften Französischen Republik. Und auf der Expo ’58 wird das „Atomium“ zum Wahrzeichen Brüssels.
Und ich, Martha Happ, bin 14 Jahre alt und besuche im ersten Jahr die Kaufmännische Handelsschule in Friedrichshafen.
Angelo Giuseppe, Charles und die Expo - das waren ferne Dinge, für mich war etwas ganz anderes aktuell:
Peter Kraus, Star der Teenager-Herzen, „der deutsche Elvis“, unsere Antwort auf den amerikanischen Rock’n Roll! (Und, wie man weiß, ist Peter Kraus bis heute dem „Rock“ treu geblieben! „Rock around the Years“ sozusagen). Gleichzeitig gab’s den Film mit ihm und Conny Froboess „Wenn die Conny mit dem Peter“. Der Film lief einige Tage in Friedrichshafen und war absolutes Tagesgespräch in unserer Mädchenklasse. Wer durfte, sah sich diesen Film an, wer konnte, gerne auch mehrmals. Ich erinnere mich: ALLE WAREN HIN UND WEG! Eigentlich von beiden, von Conny und Peter, sie waren damals einfach „IN“! Conny Froboess war eben auch ein sehr flotter Teenager! Vorbild für uns. Und der Film entsprach absolut dem damaligen Zeitgeist: Mit „unserer“ Musik, nicht bieder und verstaubt, sondern temperamentvoll und ein bißchen frech! Modern eben.
Es gab ja auch noch die legendäre Jugend-Zeitschrift BRAVO, ebenfalls bei uns Teenagern sehr begehrt. Fünfzig Pfennig kostete sie damals - für uns natürlich durchaus viel Geld! Das Problem war das äußerst knapp bemessene Taschengeld. Man konnte sich folglich nicht jede Ausgabe leisten! In den Ausgaben Nr. 24/1959 bis 38/1959 gab es darin einen Starschnitt = insgesamt 15 Teile, die jeweils gesammelt, ausgeschnitten und zu einem „PETER KRAUS mit Gitarre in Lebensgröße“ zusammengeklebt werden konnten!
Was habe ich alles unternommen, um das Geld für diese 15 Exemplare zusammenzubekommen! Es bedeutete nämlich, für meinen älteren Bruder, der bereits finanziell auf eigenen Füßen stand und Hobby-Fußballer in der „Vor-Ort-Liga“ war, JEDE WOCHE Fußball-Dress waschen - wohlgemerkt: ohne Waschmaschine - und bügeln sowie Fußballschuhe putzen.15 Wochen lang! Aber so konnte ich die heißersehnten Starschnitt-Ausgaben alle kaufen!
Als alle Teile endlich beisammen waren, das Poster zusammengefügt war, stellte sich das nächste Problem: an welche Wand durfte ER angebracht werden? Auf keinen Fall in Sichtweite meiner Eltern. So blieb mir gar nichts weiter übrig, als ihn an die Tür-Innenseite zum Speicheraufgang anzukleben.
Und Ironie, oft erschrak ich selbst an diesem übergroßen Poster, wenn ich unbedacht diese Türe öffnete!
Trotzdem, wenn ich mich noch recht erinnere: Peter Kraus hing dann doch einige Jahre dort.
Und ist in Erinnerung geblieben!
20.05.2023 / M.H.
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Komfortzonen
Neulich im Garten. Mein Nachbar, ein sympathischer Mittvierziger, steht in einem Blechzuber, den Gartenschlauch in der einen Hand, Seife in der anderen und pfeift sich eins. „Heraus aus der Komfortzone, Frau Nachbarin“, begrüßt er mich. Er hat sich eine provisorische Dusche gebaut, mit Vorhang über dem Ast eines alten Apfelbaumes und erklärt mir, daß er auf diese Weise im Sommer Energie zu sparen beabsichtige. Ich finde das großartig und gebe zu verstehen, daß es für mich mindestens ein Vierteljahrhundert gedauert hat, bis ich wenigstens annähernd die Komfortzone erreicht habe, aus der dieser naturverbundene Mensch nun fliehen möchte. Aus Erfahrung weiß ich mittlerweile, daß es der gegenseitigen Verständigung nicht unbedingt förderlich ist, zu sehr ins Detail zu gehen.
Aber diese Begegnung erinnert mich an die sparsame Energieversorgung im letzten Jahrhundert, bei uns zu Hause, wo ich groß geworden bin, die - den Zeiten war es geschuldet - einherging mit ebensolchen Überlegungen zur Nahrungsmittelversorgung. Kohle - Kartoffeln - Äpfel - das war der vorratsmäßige Mindestbestand, für den es im Herbst zu sorgen galt, damit man beruhigt in den Winter gehen konnte. Die waren bekanntlich damals kalt und schneereich, Bratäpfel eine Delikatesse (auch ohne Marzipanfüllung). Die Kartoffelrezepte waren damals Legion, heute sind sie legendär. Wer kriegt schon noch ordentliche Kartoffelknödel hin?
Ich hatte noch zwei Geschwister; wir alle hatten unsere Aufgaben: Meinem Bruder waren die Kartoffeln zugeteilt, meine Schwester Renate hatte sich um Äpfel zu kümmern - und ich schleppte Kohlen. Um den Kartoffeljob habe ich meinen Bruder nicht beneidet: Wenigstens einmal während der Einlagerungsmonate - meist gegen Ende, wenn die Kartoffeln austrieben - mußte er dem Leptinotarsa decemlineata (laut Wikipedia etwa: „Zehnstreifen-Leichtfuß“ - auch bekannt als Kartoffelkäfer) zu Leibe rücken. Diese unsere natürlichen Freßfeinde machten sich gerne über unsere Vorräte her.
Renate mit ihren Äpfeln hatte es da leichter: Sie sortierte die faulenden Früchte rechtzeitig aus und verarbeitete die nicht mehr ganz so frischen immer mal wieder zu Apfelmus oder variationsreichen Apfelkuchen. Eine nahrhafte Beschäftigung. Sie hatte es - apfelkuchenmäßig jedenfalls - zu einer gewissen Meisterschaft gebracht: Ein knuspriger Mürbteigboden und saftige Äpfel - mehr war’s nicht, aber es war ein Gedicht. Wegen des Mürbteigbodens. Ich habe lange geübt, ihn so hinzukriegen wie sie, nämlich dünn und mürbe …
Mir hatte man also die Kohlen zugeteilt. Die Briketts wurden zum vereinbarten Zeitpunkt geliefert, indem der Händler die bestellte Menge vor die Haustür schüttete. Man war gehalten, sie zügig in den Keller zu verbringen. Das geschah mit einer Briketttrage. Unsere war schwarz-silber gehämmert. Praktischerweise konnte man die Menge der Briketts, die man tragen wollte, selbst bestimmen. Wir wohnten in einem Sechs-Familien-Haus, das im Erdgeschoss einen Bäcker beherbergte. Sehr angenehm, es duftete immer so gut nach Brot und Backwaren. Das Haus hatte zwei Souterrains: Der erste hatte eine Steintreppe mit Geländer und führte in einen großen Raum mit durch Holzlatten abgetrennten Buchten für jede Mietpartei. Der zweite Keller lag noch ein Stockwerk tiefer, man gelangte zu ihm, mit einer Taschenlampe versehen, auf einer weniger gut behauenen Steintreppe, der Boden war uneben und, nach meiner Erinnerung, irgendwie nicht wie ein festes Fundament gegossen. Dort lagerten übrigens die Kartoffeln und Äpfel, bewacht von einer beachtlichen Artenvielfalt der Gattung Arachnida.
Für mich war der zweite Keller damals gruselig, ich war also froh, nur den ersten zugeteilt bekommen zu haben…
Der Nachmittag gehörte mir und der Kohletrage! Es dauerte zwei bis drei Stunden, bis das Brennmaterial in unserem Keller lagerte, der Gehsteig wieder gefegt und sauber gewischt war. Aber irgendwie mochte ich diese Beschäftigung: Man kam immer mit vielen Nachbarn ins Gespräch, die mich alle ob meiner Tätigkeit lobten. Das Kohleschleppen war ein soziales Medium. Zudem bekam ich von der Bäckersfrau nicht selten ein „Süßes Stückle“ vom Vortag oder eine noch warme Brezel frisch aus dem Ofen geschenkt …
Was für eine Komfortzone!
Renée, Stuttgart, 2023
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🥦🍅🥕🧅 Früher war mehr Gemüse
Von Brigitte (Berlin)
Lina ist meine Enkelin. Sie kommt gerne in den Osterferien zu Besuch. Mittlerweile macht man ja in heimischen Gefilden statt in Asien Ferien und reist mit dem Zug und nicht mit dem Flieger. Sie findet das absolut und total obercool, nutzt auch gerne mein klappriges Fahrrad für die regionale Fortbewegung. (Zu Fuß gehen hat sich immer noch nicht ganz durchgesetzt). Überhaupt stöbert sie gerne bei mir in der Garage oder auf dem Dachboden nach materiellen Zeitzeugen einer offenbar vergangenen Kultur: So fand sie im letzten Urlaub meine Zeltausrüstung, die mein Mann und ich aus irgendwelchen sentimentalen Gründen aufbewahrt haben. Früher haben wir damit Skandinavien und Island und, mit zunehmendem Wohlstand, sogar Alaska bereist. Am liebsten hätte Lina ja in meinem alten beigefarbenen Baumwollzelt auf dem nahegelegenen Campingplatz genächtigt, mit Trangiakocher und rußiger Alukanne samt zerbeultem Blechbecher mit Henkel. In der Rezeption des Campingresorts hatte man alle Mühe, ihr begreiflich zu machen, daß es keine Plätze für ein ZELT gibt, bloß für Wohnwagen und Caravans. Meines Wissens hat Lina das internetwendend an alle Followers verschickt mit entsprechend zeitgemäß fleischgewordener Empörung: Nicht nur verbal, sondern auch mit den entsprechenden Emojis versehen.
Lina weilte also bei mir und fand das Kochbuch meiner Mama aus dem Jahr 1960 mit den Rezepten der ausgehenden Nachkriegs- und beginnenden Wirtschaftswunder-Ära. Was für uns damals soviel hieß wie: Es gab vorwiegend heimisches Gemüse und Obst, immer entsprechend der Jahreszeit, nicht selten von netten Menschen mit Garten. Eier, Butter und Fleisch kamen nach und nach dazu, aber beileibe nicht jeden Tag und wenn, dann eher in Form von Wienerle (für jeden eins) oder falschem Hasen. An Weihnachten eine Gans zu haben zeugte von Wohlstand. Eine Wohlstandsgans sozusagen.
Lina vertiefte sich also in die Kochanleitungen. Das Ergebnis ihres Studiums war der sowohl verblüffte wie anerkennende Ausruf: „Aber ihr wart ja total veggi …!“
Das konnte ich natürlich so nicht stehen lassen, weil total unverdient: „Weißt Du, Lina, auf die Gefahr, Dich bitter enttäuschen zu müssen - wir waren keine Vegetarier. Wir hatten bloß kein Geld. Fleisch war teuer, Möhren, Kohl und Bohnen, Kopfsalat, Rettich und Äpfel hingegen preiswert, manchmal bekam man Gemüse oder Obst von netten Gartenbesitzern geschenkt, das Geld war knapp, man mußte haushalten, es mußte eben für alle bis zum Monatsende reichen. Wir waren nicht arm, aber wir hatten, um es neudeutsch zu sagen, ein „begrenztes Budget“.
„Aber den Rezepten sieht man das doch gar nicht an!“
„WAS sollte man ihnen denn ansehen?“
„Na, daß sie wegen eines begrenzten Budgets entstanden sind … sie sind doch so GESUND!!“
Nun war es an mir, Lina verwundert anzusehen:
„Was ist denn bei Dir ein ‚begrenztes Budget-Menu?‘ , fragte ich sie ziemlich verblüfft., „und was hat das mit ‚gesund‘ zu tun? “ … Und dann diskutierten wir über den Wandel der Werte im Laufe der Zeiten und wie sich im Leben manchmal Dinge wiederholen, bloß anders …
In den folgenden Tagen jedenfalls wurde bei uns „mit begrenztem Budget“ gekocht. Wir haben alle Rezepte durchprobiert. Unsere eindeutigen Favoriten waren: Bratkartoffeln mit Kopf-, Gurken- und Rettichsalat, Aprikosenknödel und Kartoffel-Lauch-Suppe. Am Sonntag machten wir einen falschen Hasen, standesgemäß mit Möhren. Danach gab es Apfelkuchen, den einfachen, bloß mit Mürbteig und Äpfeln. Ohne Schmant und Zuckerguß. Also so wie früher, vor vielen Jahrzehnten - nur: War das nicht grade gestern?
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Ruinen
Es macht mich wütend und traurig, wenn ich heute die Bilder von verwüsteten Landstrichen und zerbombten Häusern in der Ukraine sehe. Hatte ich doch gehofft, zumindest in Europa hätten Krieg und Zerstörung ausgedient, wären Zivilisation und Demokratie auf dem Vormarsch. Wären Nachbarn vor kriegerischen Überfällen sicher. All das war ein Irrtum. Und Bilder aus meiner Kindheit kommen mir in Erinnerung.
Direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, wuchs ich in einer Ruinenlandschaft im Südwesten Berlins auf. In unserer Straße am Steglitzer Stadtpark standen nur noch wenige Häuser, die bewohnbar waren. Neben unserem, das von den Brandbomben der Alliierten wie durch ein Wunder verschont blieb, reihte sich Ruine an Ruine. Auf der anderen Straßenseite sah es nicht besser aus. Von einer ganzen Reihe von Wohnblocks standen nur noch die Mauern. Uns Kindern war es verboten, dort zu spielen, stürzten doch immer wieder Mauerreste auf Gehwege und Straßen. Doch für uns waren es Abenteuerlandschaften, die eine große Anziehungskraft ausübten. Wir kannten ja nicht den Streß, die Angst unserer Eltern und Großeltern, die atemlos in den Kellern saßen, wenn draußen die Bomben fielen, wenn wieder und wieder Häuser in Flammen aufgingen, wenn es galt, Verschüttete zu bergen. Uns war die Furcht fremd, Angehörige, Hab und Gut in einem einzigen Moment komplett zu verlieren.
Für uns Kinder hatten die furchtbaren Erinnerungen unserer Familien natürlicherweise nicht die prägende Bedeutung. Wir hangelten uns in abgebrannten Bäumen, die gerade noch nicht in den Öfen verheizt waren, von Ast zu Ast. Wir kletterten in den Ruinen in den ersten Stock und richteten uns auf einem erhaltenen Balkon ein. Auch konnte man zwischen Mauerresten und Schutthaufen wunderbar Verstecken spielen. Uns fiel immer etwas ein. So kann ich mich an unseren ersten Fußball noch gut erinnern. Einer von uns Jungen hatte ihn zu Weihnachten geschenkt bekommen. Auf unserer Straße waren wir unermüdlich zugange, immer Autos im Blick, die zu der Zeit aber noch selten waren.
In den Ruinen suchten wir nach Metall, Beschlägen, Rohren, wofür man beim Schrotthändler ein paar Pfennige bekam. Damit ging es dann zum Bäcker, der für fünf und zehn Pfennige Warschauer verkaufte, wunderbare süße Kuchenstücken, die aus Resten von allem möglichen alten Gebäck bestanden und sehr beliebt waren, trugen sie doch einen dicken Zuckerguß als Mantel.
Überhaupt konnte man die Ernährung im ersten Nachkriegsjahrzehnt nicht mit der heutigen Zeit vergleichen. Wir Kinder freuten uns über alles, was süß war. Lutschbonbons und Prickel Pit waren beliebt, die Schulspeisung in den ersten Jahren in der Grundschule mit Kakao und Rosinenbrötchen ein Fest. An den Wochenenden, an denen es Kuchen gab und der Duft durch alle Räume unserer kleinen Wohnung zog, ein Großereignis. Mein Vater erzählte einmal, wie er zusammen mit meinem Großvater auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor den Ruinen ein Stück Vorgarten von Schutt befreit und umgegraben hatte, um Kartoffeln zu pflanzen. Doch leider fiel die Ernte schlecht aus, weil sich über Nacht Diebe bedient und kaum etwas übrig gelassen hatten.
Unser Küchenfahrplan war höchst einfach und dem knappen Budget angepaßt. Es wurde gekocht, was es gerade gab und preiswert war: viel Gemüse, vor allem Kohl, Gurken, Kraut und Rüben wurden auf dem Wochenmarkt eingekauft. Viele Suppen gab es, Kartoffeln und Klöße, Brot. Früchte kamen aus unserem Kleingarten, den mein Großvater fachmännisch pflegte. Äpfel, Pflaumen, Birnen, Erd- und Johannisbeeren - vieles wurde eingeweckt für den Winter. Überhaupt - dieser Garten mit seiner kleinen, aus rohen Ziegeln selbst gebauten Laube, war für uns Kinder ein Refugium. Ausflüge in die sowjetisch besetzte Zone kamen für uns wie für die meisten anderen uns bekannten Familien nicht in Frage. So waren die Berliner Kleingartenkolonien ein echter Segen, sowohl für die Versorgung der Bevölkerung mit Obst und Gemüse, als auch für den Wochenend-Kurzurlaub. Mit belegten Broten und Apfelsaft ging es zum Tagesausflug in die Oase. Manchmal briet Vater Würste am Stock über einem kleinen offenen Feuer. Diese Erinnerungen bleiben für immer.
Im wöchentlichen Ablauf war der Sonntag ein besonderer Tag. Da gab es Fleisch, vorweg eine Suppe, abschließend Kompott. Alle saßen gemeinsam am Tisch, die Familie genoß diesen Tag. In späteren Jahren gab es auch ein Gläschen Wein für die Erwachsenen. Ich erinnere mich noch an ein lustiges Weinetikett - Kröver Nacktarsch.
Wir Kinder waren, wenn ich zurückblicke, zufrieden und glücklich mit dem - aus heutiger Sicht - Wenigen, Einfachen. Die Eltern und Großeltern um uns waren auf ganz andere Weise glücklich und zufrieden. Zumindest aber dankbar, den Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges überlebt zu haben.
RS 2023
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Mein erster Verbrenner
Anfang 1965 kaufte ich in Berlin meinen ersten Wagen. Ich war gerade 19 Jahre geworden, hatte den Führerschein erworben und fünfhundert DM durch Gelegenheitsarbeiten zusammengebracht. Es wurde ein VW, himmelblaugrau, leicht rostig und mit einer geteilten Heckscheibe (die bei Wiki gängige Bezeichnung „Brezelkäfer“ war bei uns Preußen unbekannt). Er hatte etwa 15 Jahre auf dem Buckel, die grau gemusterten Stoffsitze wiesen gewaltige Gebrauchsspuren auf, und 25 PS beschleunigten ihn aus dem Stand auf satte 100 km/h in weniger als 60 Sekunden, wenn ich mich nicht irre. Letzteres konnte man im geteilten Berlin auf der AVUS (Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße) unter dem Funkturm ausprobieren, zum Beispiel auf dem Weg ins Strandbad Wannsee. So weit führte die zur Rennstrecke ausgebaute AVUS nämlich. Und hier konnte man anfangs so schnell fahren, wie man wollte beziehungsweise wie es das eigene Gefährt zuließ. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mit einem Freund Achim diesen Test machte, die Tacho-Nadel schließlich auf die 100 km/h kletterte und wir aus voller Kehle „Jawolll“ schmetterten.
Mein „Rennwagen“ hatte aber auch so manche irritierende Eigenart. Schneite es oder gab es Starkregen, machte es sich schnell bemerkbar, daß die Reifen nicht mehr auf dem neuesten Stand waren und er ein etwas umbestimmtes Fahrverhalten an den Tag legte. Ging es mal schnell in die Kurve, konnte es passieren, daß den Fahrer das Heck quasi überholte. Deshalb auch der etwas böswillige Name „Heckschleuder“. Und hier gab es einen Trick, den nicht wenige anwandten, denen die Lastenverteilung im VW nicht optimal schien. Wir legten in den Kofferraum, der sich über den Vorderrädern befand, einen 10-15 Kilo-Block Braunkohlenbriketts und waren ziemlich sicher, so besser durch Schnee und Glatteis zu kommen.
Ja, ich lernte ich mein erstes Auto kennen. Und es gab so einiges, worauf zu achten war. Berlin kannte russisches Steppenklima und saumäßig kalte Winter. Nachts hatte es oft minus 20 Grad oder sogar noch weniger. Da waren die Batteriestände regelmäßig zu überprüfen und destilliertes Wasser nachzufüllen. Nicht selten wurde die Batterie über Nacht ausgebaut und mit in die Wohnung genommen, um sie vor frostigen Nächten zu schützen. Das waren nur ein paar Handgriffe, und der morgendliche Kaltstart war gesichert.
Oft machte auch der Anlasser Probleme, und das störrische Vehikel mußte angeschoben werden. Also suchte man sich abends, wenn man nach Hause kam, irgendwo ein Stück Straße mit etwas Gefälle, was sich in Berlin nicht immer anbot. Die Stadt war praktisch topfeben, unser höchster Hügel, der Kreuzberg, maß gigantische 52 Meter. Also entfiel das „Zündung an, Rollenlassen und vorsichtig Einkuppeln“, um den Käfer in Schwung zu bringen. Da waren Muskelkraft und Schnelligkeit gefragt: Fahrertüre auf, kräftig schieben, sprinten und mit der Rechten lenken, den richtigen Zeitpunkt abpassen, blitzschnell vors Steuer springen und - siehe oben. Manchmal war dieser Frühsport zwei- bis dreimal vonnöten, bis der Motor hustend und bockig ruckelnd kooperierte. Übrigens - eine Übung, die beim heutigen Verkehr kaum noch praktikabel wäre.
Keilriemen der Lichtmaschine waren ein weiteres, unsere Mobilität einschränkendes Thema. Sie rissen häufiger, und es war nicht falsch, einen Ersatz mitzuführen. Aber auch hier gab es pfiffige Ideen zur Selbsthilfe. Sollte weibliche Begleitung im Wagen sein, bat man um einen Nylonstrumpf oder die Strumpfhose. Mit dieser, stark verknotet und straff gespannt, konnte manch funktionsunfähige Lichtmaschine zur Weiterarbeit bewegt werden.
Es gäbe noch einiges über meinen ersten Verbrenner zu berichten. So wurde mir erst Wochen nach dem Kauf klar, weshalb unter den Pedalen für Gas, Bremse und Kupplung gleich mehrere Gummimatten übereinander lagen. Ich räumte sie weg, weil sie hinderlich waren - und sah durch zwei faustgroße Rostlöcher den Asphalt unter meinem Auto.
Also: Lange habe ich ihn nicht behalten. Er ging für 300 DM weg, die ich in einen weiteren VW investierte, hellgrau, aber diesmal mit der modernen „Panorama-Heckscheibe“, kein Brezel-Typ sondern groß, leicht gewölbt und ungeteilt, Tachostand 60 000 km, 30 PS. Ich mußte noch 400 DM drauflegen.
RS 2023
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The following text was taken from the biography: Giselle Braeuel: Growing up in Volmarstein, Gilmore Doculink, Canada, 2011
With the kind permission of Giselle Braeuel, Kanata/ Ontario, 2020. Thank you, Gisela!
„Keep the shop and the shop will keep you.“ Ben Jonson
Christmas in the Drugstore
Giselle Braeuel, Kanata/ Ontario, 2020
Show me any retail store, and I will tell you that the owner does not have a Christmas of the peaceful kind, of the kind where you become reflective and contemplate the real meaning of that holiday.
No, it’s usually the busiest time of the year, the time where most of the retail industry now makes seventy percent of the year’s turnover.
Well, in those days it wasn’t quite that hectic but, by golly, we were busy. Beside three other employees, Gustav, Klaus und Käthe, there were my parents, my brother, my sister and myself. You see, in those days you were not asked: „My child, what would you like to be?“ It was understood, in moste cases, that you went into the business of your parents. In our case we all became druggists.
On Christmas Eve day my dad used to check the cash register every half hour, an anxious smile on his face.Had we reached last year’s total yet? Yes, we always had. And then his eyes shone with pleasure: „Hey, guys, we are over!“ It was healthy to grow. „Standing still is going backwards,“ he used to say. He was happy, and the rest of the family was too because he was. It really seemed that everybody in our small town waited with their Christmas shopping until the last day. You see, we are talking about many, many years ago, when presents, compared to today, were of a more modest nature. And a drugstore, the store of the thousand articles, as ist was called, was the ideal place to shop.
The old-fashioned German drugstore carried everything a drugstore carries now (except that ist did not dispense prescription drugs) however the selections were much smaller. In addition we had a liquor section, a wine cellar and a camera department with a finishing lab attaches. Perfume, cosmetics, a great bottle of brandy, all these made excellent gifts.And not to forget the necessities like, film, candles, Christmas tree decorations and similar items. In other words, business was wonderful, and excellent service was given. My dad saw to that. There we all stood in freshly starched, white coats, passing merchandise - self-help was unknown - over the counter: efficiently, smiling, knowing by name almost every single customer.
It was non-stop from the time the store opened. No scheduled breaks were possible. However in the back was a table covered with absolutely delicious snacks which we enjoyed on the run, swallowing them real fast because you couldn’t serve the customers with your mouth full or chewing on something.
When 6 p.m. finally arrived, we were all near exhaustion and far from experiencing those peaceful Christmas feelings. But threatening in the distance was midnight mass. Came hell or high water, my father would not think of ever missing ist. What would people say if our family didn’t show up in church? Looking back I think they would surely have survived it. I sometimes suspected him of putting his customers ahead of his own family. But then again ist was a small town and they were our livelihood.
Between store closing and midnight mass happened a good meal of the traditional carp and the exchanging of the gifts.Carp wasn’t my favo rite food, I enjoyed the goose on Christmas Day much more. The gift exchange, to be honest, wasn’t a source of cheer joy either. While we were all singing our hearts around the tree - the custom before the gifts were opened - the door bell would at least ring twice, interrupting the festival atmosphere.
My dad, trying to please, as usual, would stop right in the middle of „Silent Night“, or whatever we happened to be singing and ignoring our protest, go downstairs into the shop. All this with a smile on his face, as was his style and the reason for his immense popularity. Usually someone’s tree had fallen over, and the decorations needed to be replaced. Or someone had forgotten to buy films, or a baby bottle had broken which in those days was made of glass. Or someone had a terrible headache, needing pills.
However, if this sounds like a not very Christmassy Story, to make up for that one hectic festival, there were wonderful birthdays, Easter celebrations, the nearness of many relatives and in general the feeling of belonging to a good, close-knit family which gave me the foundation on which to build the rest of my life.
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Zigaretten für den Schutzmann
Die kleine Geschichte, die ich erzählen will, spielte Weihnachten 1954 an der Kreuzung Albrecht- und Sedanstraße im Berliner Bezirk Steglitz, im ehemaligen amerikanischen Sektor der geteilten Stadt.
Ich hatte meinen Vater, der in einem neu eröffneten Geschäft als Friseur arbeitete, am Nachmittag von der Arbeit abgeholt. Heiligabend fiel auf einen Freitag, und wir schritten zügig durch tanzende Schneeflocken die Albrechtstraße hinauf. Mein grauer Wollmantel war ein wenig zu groß, aber praktisch, weil es noch Platz hatte für einen warmen Pullover, den meine Oma mir gestrickt hatte. So fror ich, die Mütze über beide Ohren, kein bißchen bei dem feuchtkalten Dezemberwetter.
Ein wenig mußte ich mich jetzt schon beeilen, denn mein Vater machte große Schritte, weil er noch den Christbaum putzen mußte. Nach Hause waren es immerhin fast dreißig Minuten, und ein Auto besaßen wir nicht. So steuerten wir auf die Kreuzung zu, in deren Mitte ein Schutzmann in seinem graublauen Uniformmantel stand und den Verkehr regelte. Um gut gesehen zu werden, hatten seine Unterarme weiße Überzüge, wie Stulpen. Und er stand auf einer erhöhten, runden Plattform, die er zu Beginn seines Dienstes auf die Mitte der Kreuzung rollte. Wir sagten hierzu Elefantenfuß.
Mit ausgebreiteten Armen ließ er den den Verkehr fließen oder stoppen. Ein erhobener Arm bedeutete Achtung für beide Straßenzüge. Man muß wissen, daß damals belebte Straßenkreuzungen häufig einen Schutzmann hatten, der dafür sorgte, daß Autofahrer und Fußgänger gleichermaßen zu ihrem Recht kamen. Zebrastreifen gab es zu dieser Zeit noch nicht, und die Straßen füllten sich erst langsam wieder mit Fahrzeugen aller Art. Ampeln waren noch selten und besonders stark befahrenen Straßenzügen vorbehalten.
„Das ist der Herr Sawitzke“, sagte mein Vater, auf den Polizisten deutend. „Er kommt regelmäßig zu mir zum Haareschneiden.“ Ich schaute hinüber und staunte: Da hielt gerade ein grüner VW Käfer, obwohl er freie Fahrt hatte. Die Fahrerin kurbelte das Fenster herunter und stellte dem Schutzmann eine bunt eingepackte Flasche auf seine runde Plattform. Unser Steglitzer Schutzmann legte die Hand an seine Mütze, lächelte und verbeugte sich leicht. Der blaue Borgward Isabella hinter dem Käfer und ein Oberleitungsbus warteten geduldig, bis die Flasche unbeschadet abgestellt war. Schließlich war Weihnachten und Zeit zum Dankesagen für den Dienst an der Gemeinschaft bei Wind und Wetter, Regen und Schnee. So hatten sich bereits mehrere kleine Päckchen beim Polizisten Sawitzke angesammelt. Und auch mein Vater hatte an das Auge des Gesetzes gedacht. Er eilte bei Achtung, als alle Seiten hielten, zu seinem Kunden und schenkte ihm eine Schachtel Zigaretten. Zurück und mit mir auf dem Weg nach Hause verriet er schmunzelnd: „Ich kenne seine Marke. In der Werbung sagen sie: Aus gutem Grund ist Juno rund.“
RS 2021
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Unsere Musiktruhe
Ich muß etwa sieben Jahre alt gewesen sein, als in meiner Familie etwas Außerordentliches geschah. Das Geld war, kurz nach Kriegsende, knapp. Um so gewaltiger war die Überraschung, mit der mein Vater eines Tages aufwartete. Wir bekamen eine Musiktruhe, die so ähnlich aussah wie auf diesem Bild. Eine Wunderkiste Marke Grundig, nußbraun, mit Radio und kleinem, spiegelnden Barfach. Ehrfurchtsvoll versammelte sich die Familie um das Prunkstück. Meine Großeltern saßen gespannt im Sessel, Mutter hielt das Schwesterchen auf dem Schoß, Vater saß auf der Erde, probierte die LW-, MW- und UKW-Taste und drehte mit den Suchknöpfen verschiedene Sender rein. Nicht alles war zu verstehen, es kratzte und zischte leise, Musik schwoll an und verebbte wieder. Aber wir waren mit sofortiger Wirkung an die Welt draußen angeschlossen. Der RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor) war unsere Berliner Nabelschnur in die freie Welt. Wobei Thilo Kochs „Guten Abend drüben in Deutschland“, nämlich seine Berichte aus Washington, von meinem Vater und Großvater mit großer Spannung erwartet wurden. Da herrschte Ruhe im Zimmer.
Aber das war bei weitem nicht alles, was diese Truhe zu bieten hatte. Man mußte die elfenbeinfarbene Plastiktaste TA (Tonabnehmer) herunterdrücken, und Musik erklang. Wir konnten 33er und 45er Schallplatten abspielen und die Vinyls gleich unter dem Plattenspieler in einem Extrafach senkrecht nebeneinander aufstellen. In das Barfach kamen der Eierlikör und ein grauenhafter Magenbitter, der meinem Großvater half, wenn schweres Essen verteilt werden mußte.
An die erste Schallplatte erinnere ich mich gut, weil wir Kinder fröhlich mitsangen: „WELLA ist zum Wellen da, juppheidi und juppheida. Aber auch zum Tönen brauchen es die Schönen …“ Mein Vater, Frisörmeister, hatte sie von einem Firmenvertreter geschenkt bekommen. Und so dudelte sie so lange durch die Wohnung, bis Operettenklänge diesem Einerlei ein Ende machten.
Ein anderes Erlebnis ist auch unvergessen: Die Fußball-Weltmeisterschaft 1954. Zu den Spielübertragungen versammelten sich bis zu 25 Menschen, Freunde und Bekannte, vor dem Radio in unserem nicht gerade großen Wohnzimmer. Alle Stühle wurden zusammengetragen, wer keinen Platz fand, saß auf dem Fußboden. Fachkommentare schwirrten durch die Luft, meist bekam der Schiedsrichter sein Fett weg. Spielzüge wurden gefeiert und Spieler, in der Regel des Gegners, in der Luft zerrissen. Deutschland spielte erfolgreich. Es gab Brötchen mit Mettwurst, Bier und Johannisbeersaft aus dem Garten. Und Deutschland gewann weiter. Die bunte Zuhörerschaft saß in Viererreihe, Aschenbecher wanderten von Hand zu Hand, die Luft war zum Schneiden dick.
Im Nachhinein kann man das Folgende viel besser einordnen, als man es damals als Siebenjähriger empfand. Die Stimme von Reporter Herbert Zimmermann „Rahn schießt - Tooooor! Tooooor! - Tooooor - Tooooor“. Was für eine Sensation - Deutschland war gerade Weltmeister geworden. Alles lag sich jubelnd in den Armen. Wir Kinder tanzten.
Unsere Wunderkiste Marke Grundig blieb für fast zwanzig Jahre in der Familie und absolvierte auch unbeschadet einen Umzug. Meine Lieblingssendung im beginnenden Teenageralter waren ganz klar die Hitparades des AFN Berlin (American Forces Network). Aber das war nicht nach jedermanns Geschmack. Beim Plattenspieler mußte immer mal wieder die Nadel ausgetauscht werden, aber glücklicherweise lernte die Truhe noch Elvis Presley mit seinem Blue Hawaii und Bill Haley mit Rock around the Clock kennen. Da konnte sie noch einmal zeigen, was seitens der Lautsprecher in ihr steckt.
Den Platz als Medienstar hatte unser Grundig aber verloren. Den nahm ein Schwarz-Weiß-Fernseher, Marke Telefunken, ein, der ab 1961 sogar zwei Programme anbot und schnell zum medialen Familienmittelpunkt avancierte.
RS 2020
🔸🔹🔸🔹
Rasende Zeiten* (Digitale Wunderwelten)
Wenn ich zurückblicke, ist es gerade mal gute 50 Jahre her, daß ich auf meiner mechanischen Schreibmaschine OLYMPIA die Tipfehler mit TIP-EX korrigierte. Das ging so: ein falsches Wort getippt, das Papier mit der Walze hochgedreht, das TIP-EX Fläschchen geschüttelt, geöffnet, mit dem Pinsel den Fehler mit weißer Farbe überstrichen, kurz gewartet, bis die Farbe getrocknet und das gelöschte Wort überschrieben werden konnte. Fertig.
🌐 Schon wenig später kam die elektrische Schreibmaschine mit separatem Korrekturband auf den Markt. Das war schon eine echte Erleichterung, doch auch sie hatte nur eine sehr kurze Favoritenrolle.
🌐 Nun zur Musik: Mein GRUNDIG TK ?, eine richtig schwere Kiste, verwandelte sich über Nacht in einen Walkman von SONY, der in die Hosentasche paßte, mit Musikübertragung via Knopf-im-Ohr. Wir sammelten Kassetten von den Rolling Stones, Bob Dylan und Pete Seeger. Kofferweise. Wer hatte da noch einen Plattenspieler mit Nadel und Vinylplatten im 33er oder 45er Format? Die Songs gab es im Supermarkt, im Drogeriefachhandel, an Tankstellen.
🌐 Schon waren auch Schreibmaschinen passé und verschwanden vom Markt. Geschrieben wurde jetzt auf dem Computer, gespeichert auf 3,5 Zoll-Diskette oder Floppy Disk mit mehreren tausend Kilobyte. Die Fortschrittlicheren hatten bald ein integriertes Rechenprogramm im Schreib-Software-Paket. Die Bildschirme waren noch recht klein, schwarzweiß. Der NeunNadelDrucker neben meinem Commodore machten einen höllischen Lärm, und er brauchte ca. neun Minuten für eine eng beschriebene DIN A4 Seite.
🌐 Auch die Kommunikation veränderte sich rasant. Wo man früher an Telefonzellen anstand oder bis zu einem Jahr auf einen Festnetzanschluß wartete, hatte man es plötzlich leicht. Mobilfunk machte die Erreichbarkeit ab den 90er Jahren fast überall und zu jeder Zeit möglich und begann, das Leben entscheidend zu verändern. Die ersten Handys wogen ein gutes Pfund, aber auch das änderte sich schnell. Telefonie wurde zu einem kleineren Teil des Datenflusses, der mittlerweile weltweit unterwegs war.
🌐 Heute (März 2022) leben wir mit der Künstlichen Intelligenz. Wir gehen mit unserem Smart Phone ins Internet, können uns an weltumspannenden Sozialen Netzwerken beteiligen, Messenger-Dienste nutzen. Wir zahlen im Supermarkt mit dem Handy und lesen die „Zeitung“ auf dem Tablet. Nicht nur bei Bankgeschäften und beim Autokauf helfen uns Apps. Den Kühlschrank können wir digital verwalten und jeden Tag eine Milliarde Fotos rund um den Erdball schicken. Die Wetter-App warnt vor Sturm in 14 Tagen, während das Ernährungsprogramm leichte, nitratarme Kost empfiehlt. Beim Wandern, Auto- und Fahrradfahren liefert der kleine digitale Tausendsassa Karten und Streckenhinweise, hat jede Menge Musik im Speicher, notiert Termine auch via Sprachübertragung und hält den Kontakt zur Krankenversicherung.
Kurz und gut, was für ein spannendes Leben! Wir werden uns der Entwicklung immer wieder neu stellen müssen. Die Zeiten rasen, wir rasen mit.
👎 *Während ich diesen Artikel schrieb, fiel plötzlich der Strom aus. Nichts ging mehr. Mein Entwurf war verschwunden, der Bildschirm schwarz. Was war das? Eine grünrotpolitische Notstandsübung als Vorgeschmack auf knappe Energiezeiten? NEIN! Ein Stromkabel wurde in der Umgebung bei Straßenbauarbeiten beschädigt. Das digitale Leben kann weitergehen. Allerdings nur, wenn die existentielle Energie zur Verfügung steht.
RS 2021
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Telefonzellen
Manche kennen sie heute gar nicht mehr - die gelben, auf gut einem Quadratmeter Grundfläche stehenden Häuschen aus Stahlblech, dreiseitig verglast und ausgerüstet mit einem Münzfernsprecher. Sie schmückten öffentliche Plätze, S-Bahn-Stationen und Boulevards, waren fester Bestandteil des Straßenbildes und stark nachgefragt. Damals, vor einem halben Jahrhundert etwa. Also zu den Zeiten, als man noch für ein Ortsgespräch bei uns in Berlin 20 Pfennige brauchte (in Groschen natürlich) und auf einen häuslichen Telefonanschluß etwas so lange warten mußte wie auf einen Sechser im Lotto. Ersatzweise konnte man bei uns auch in Postämtern telefonieren, aber die machten abends um sechs zu, und es konnte immer jemand mithören.
Diese Zellen zur Gewährleistung einer privaten oder beruflichen Kommunikation waren mit dem für manche absolut sinnlosen Hinweis ausgestattet „Nimm Rücksicht auf Wartende - FASSE DICH KURZ!“ (Mit Ausrufezeichen) Da war Mitmenschlichkeit gefordert - bei Starkregen, Schnee oder brütender Hitze. Auch war es noch eine ganze Zeit üblich, daß immer nur ein Gespräch geführt wurde. Wer mehrere Anrufe erledigen mußte, hatte sich in der Schlange wieder hinten einzureihen. Wer eine Telefonnummer suchte, fand neben dem Hörer das städtische Telefonbuch. Schlecht nur, wenn wieder keine Brille zur Hand war. Da dauerte das Suchen doppelt so lange. Außerdem: es wurde grundsätzlich richtig laut gesprochen, waren doch auch Ortsgespräche insofern „Fern“gespräche, da der Gesprächspartner ja außer Sicht war. Und eindeutig sollte die eigene Ansage schon sein. Das konnte jeder, der draußen wartete, bestätigen. Auch durfte geraucht werden. Ein fest verschraubter Aschenbecher aus Aluminium war für Asche und Kippen zuständig.
Kurz und gut: Telefonzellen waren in der Vor-Handy-Zeit unverzichtbar. Und sie waren - nach einer irgendwie gut gemeinten Verordnung -„höchstens“ 2,5 Kilometer vom jeweiligen Wohnort entfernt. Man ging also mal schnell vor die Tür und steuerte eine 15 Minuten entfernte Telefonzelle an. In der Hosentasche, gut vorbereitet, die Telefongroschen. Wenn es Ferngespräche werden sollten, steckte man Fuffziger und Markstücke ein. Wobei manchmal völlig unklar war, ob die Person, mit der man sprechen wollte, denn auch erreichbar war. Da konnte mehr als eine Dreiviertelstunde mit An- und Abmarsch sowie Wartezeit bei besetztem Häuschen zusammenkommen. Zudem pflegte Petrus meist dann mit dem Regen einzusetzen, wenn man auf halber Strecke war oder warten mußte und natürlich keinen Regenschirm dabeihatte.
Schließlich war ja noch das Gesprächsergebnis von Bedeutung: War die Autowerkstatt mit der Reparatur immer noch in Verzug? Die Freundin immer noch sauer? Kam der Elektriker jetzt wirklich am Freitag? Warum meldete sich das Reisebüro seit der Anzahlung nicht mehr? Und was ist mit Tante Frida? Tausend Fragen, die in dieser einen Quadratmeter großen Zelle eine Antwort suchten. Außerdem führte die stickige Luft zu Hustenanfällen. Der Vorgänger hatte Zigarre geraucht.
Aus heutiger Sicht muß man diese poststeinzeitlichen Kommunikationsübungen als totale Zeitverschwendung einstufen. Jetzt ist Echtzeit angesagt. Kleinkinder sind bereits Virtuosen auf dem Handy. Mit WhatsApp reisen täglich Milliarden bedeutsame Mitteilungen in Bild und Text um den Globus: Süße Maxi beim Tortenessen/ Kevin und Franzi - Gruß von Malle/ On the Top - Neal!!!/ Mahlzeit - wie spät ist es bei Euch/ Jogi beim Fensterputzen/ Fischstäbchen und drei Sterne geht gar nicht! Weitere soziale Netzwerke kümmern sich im 24Std-Takt darum, daß es den Menschen weltweit nicht langweilig wird.Völlig klar - die gute alte Telefonzelle braucht heute niemand mehr.
Wobei, das stimmt nicht ganz. Am 27.6.2017 notierten die WESTFÄLISCHEN NACHRICHTEN eine - jawohl - Weltsensation: Hatte doch der Schützenverein Burgsteinburg einen neuen Weltrekord aufgestellt. 18 Personen, jung und alt, hatten sich in eine extra aus Berlin importierte gelbe Telefonzelle gequetscht. Zwei über dem alten Weltrekord. „Adrenalin pur“, wie der Vereinsvorsitzende jubelte.
Ich schließe erleichtert. Meine gute alte Telefonzelle wird also immer noch gebraucht.
RS 2020
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It’s only Rock ’n‘ Roll
"A Big Hunk o' Love“ - was so viel bedeutet wie Ein großes Stück Liebe, war noch nicht gerade der ultimative Song, mit dem ein damals Zwölfjähriger unbedingt etwas anfangen konnte. Elvis Presley hatte mit ihm 1959 nicht zum ersten Mal die internationalen Charts gestürmt, er hatte vor allem in kürzester Zeit ein etabliertes Musikverständnis pulverisiert. Wild, laut, anders, modern war das, was über „den großen Teich“ nach Europa und Deutschland schwappte. Und postwendend hatten diese brüllenden Boys mit ihren wilden Verrenkungen, ihren elektrischen Gitarren und dem gnadenlos hämmernden Schlagzeug jede Menge Gegner in einer empörten Elternschaft. Sie hatten aber auch Unterstützer. Bei uns im Westteil Berlins zum Beispiel den amerikanischen Soldatensender AFN (American Forces Network), der uns Jugendliche mit seinen wöchentlichen Hitparaden auf dem laufenden hielt. Hinzu kamen die Jugendzeitschrift BRAVO und ein, zwei Radiosender, für die Rock and Roll kein Fremdwort war.
Musik wurde praktisch von Monat zu Monat wichtiger, war das Thema schlechthin. Mehr und mehr mächtige Rock-Röhren tauchten auf. Jerry Lee Lewis, Little Richard, Buddy Holly und Gene Vincent mischten den Äther auf. So kam es bereits 1958 bei einem Auftritt von Bill Haley, einem „Urvater“ des Rock and Roll, im Berliner Sportpalast zu Saalschlachten und gewaltigen Zerstörungen des Mobiliars. Die zumeist jungen Zuschauer waren entfesselt von Rock around the Clock und im übrigen von allen guten Geistern verlassen, der Sänger und mit ihm Peter Kraus und Conny Froboess mußten hinter die Kulissen flüchten. Eine in dieser Hinsicht ziemlich wilde Zeit war angebrochen.
Für viele von uns war damals der Besitz eines Kofferradios von elementarer Bedeutung. Vieles im schulischen wie privaten Bereich drehte sich nur um eins: die neuesten Hits, die wichtigsten Bands, die erfolgreichsten Sänger. Die Beatles, musikalische Urgewalt aus Liverpool (aktueller Verkauf heute über 1 Milliarde Tonträger), brachten jeden Saal, jedes Jugendheim zum Kochen mit ihrem Twist and Shout. Pausenlos tauchten neue Bands aus England und den USA auf. Von der Insel kamen The Who, The Yardbirds, The Kinks, The Animals, um nur einige der 60er Jahre zu nennen. Wobei neben den Beatles die Rolling Stones für uns von besonderer Bedeutung waren.
Aus den USA mischten das Musikgeschäft vor allem diese Bands auf: The Doors, The Velvet Underground, The Byrds, Creedence Clearwater Revival, The Beach Boys. Letztere landeten 1963 den ultimativen Sommerhit mit Surfin’ USA.
Völlig neue Tänze brachen sich Bahn. Rock ’n‘ Roll und Boogie Woogie, Slop und Twist waren im nu etabliert, wobei letzterer eine ganze Menge Beweglichkeit und starke Beinarbeit verlangte. Aber eine Generation, die mit dem Hula-Hoop-Reifen klar kam, meisterte auch den Twist, ob von und mit Chubby Checker oder wem auch immer.
Zur Musik gehörte selbstverständlich auch ein passendes „Outfit“. Nach meinem Eindruck waren das zum einen die Blue Jeans , erfunden und 1873 patentiert von Levi Strauss, der in Franken geboren wurde und als Auswanderer 1847 nach San Francisco ging. Viele Eltern mochten es überhaupt nicht, wenn ihr Nachwuchs in „Arbeiterhosen“ herumlief. Doch die Jeans setzten sich bei der Jugend in rasendem Tempo durch. Auf seine Levis war man einfach nur stolz, wenn man sie denn tragen durfte.
Ein weiteres Konfliktfeld zwischen Alt und Jung waren die bei den Beatles („Pilzköpfe“) und anderen, ungepflegt daherkommenden Bands abgeschauten langen Haare, gegen die nicht wenige Schulleiter, Lehrer und die meisten Eltern Sturm liefen. Wie viele schlimmen Auseinandersetzungen gab es gerade deswegen. Unter Maßnahmen wie gekürztem Taschengeld und Ausgangsverboten stöhnten nicht nur meine Freunde. Von Eltern, die selbst zur Schere griffen und manch anderen „Erziehungsmitteln“ war immer wieder zu hören. Was für uns Jungen die langen Haare war für die Mädchen der von der britischen Designerin Mary Quant 1962 kreierte Minirock. Auch sie hatten zu kämpfen mit der kritisch guckenden Erwachsenenwelt, und zwar wegen der Rocklänge. Aber egal was kam und wie es sich entwickelte - in uns Teenagern steckte gewisses Rebellionspotential. Und über unserem Bett hingen, meist aus der BRAVO, die Bilder unserer Lieblingsbands.
Wer einen Plattenspieler hatte, kaufte und sammelte Singles und LPs, die nicht gerade preiswert waren. Twist and Shout von den Beatles, die ich heute noch in Ehren halte, kostete damals stolze 4.50 DM. Langspielplatten gab es für 18 DM. Und man kaufte die Vinyls in Musik-Fachgeschäften. Hier in Berlin zum Beispiel bei Ton und Welle in der Steglitzer Schloßstraße. Dort hatte man die Möglichkeit, sich in kleinen Kabinen, ausgestattet mit zwei Cocktail-Sesselchen und einem Plattenspieler, die neuesten Werke unserer Rock-und-Pop-Helden anzuhören. Natürlich nur in Zimmerlautstärke. Bis zu sechst passten wir sitzend und stehend in diesen kleinen Raum. Das vergißt man nicht.
Ebenso wenig werde ich den Auftritt der Rolling Stones 1965 in der Berliner Waldbühne vergessen. Wir hatten ziemliche Schwierigkeiten, Karten zu bekommen. Die Medien trommelten, nicht alle hatten eine hohe Meinung von unseren Lieblingen. Von „ungewaschenen Höhlenmenschen“ war die Rede, aber auch von der härtesten Rockband aller Zeiten. So weit ich mich erinnere, zählte die Berliner Zeitung DER ABEND den animierenden Countdown der letzten zehn Tage bis zu dem Konzert auf der Titelseite. Wir konnten Mick Jagger und Kollegen und ihr „(I Can’t Get No) Satisfaction“ kaum erwarten. Aber leider kam alles anders: Der Auftritt wurde zur Katastrophe. Gerade einmal vier oder fünf Stücke spielten die Stones, bis sie vor der die Bühne stürmenden Menge flüchten mußten. Die Ordner hatten keine Chance, und die Polizei griff ein. Es gab jede Menge Schlägereien, Kleinholz, Gummiknüppel und Wasserwerfer. Die S-Bahn fiel auf mehreren Strecken aus. Die Waldbühne glich einem Trümmerfeld und blieb lange geschlossen.
Abschließend: Im Jahr 2022 und mit nunmehr 79 gelebten Rock ’n’ Roll-Jahren begeisterten die legendären Mick Jagger, Keith Richard und Co. wieder das Berliner Publikum. Beide Seiten verhielten sich im gesetzten Alter wesentlich friedlicher und überhaupt nicht gewaltbereit. Was doch ein paar Jährchen ausmachen!
RS 2023