● Weihnachten mit Bär von Gerdi
● Eine Weihnachtsgeschichte von Gerdi und Rolf
● Im Nebel von Gerdi
● Bobby, der Weihnachtshund von Carin
● Ein höchst beliebtes Weihnachtsgeschenk von Heinz
● Es gab täglich einen OREO von Rolf
● Ein weises Geschenk von Gerdi
● Zigaretten für den Schutzmann von Paul
● Speerweg: Unter Menschen von Heinz
● Christmas in the Drugstore by Giselle
● Eine Taxifahrt am Heilig Abend von Rolf
● Im Tierheim von Paul
● This is Christmas-Time! von vox vulgi
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🎄 Weihnachten mit Bär
Der Bär war wieder da. Er trottete bedächtig am Blockhaus vorbei, inspizierte wie gestern schon das gesamte Areal vor dem Haus, beroch alles, was er vorfand: Den klobigen Holztisch und die gezimmerte Bank, die abgesägten Baumstücke, die um den Tisch herumstanden und im Sommer als Sitzgelegenheiten für die immer zahlreichen und lebhaften Gäste dienten. Er strich gemächlich an der Garagentür vorbei und probierte mit seiner dicken Tatze, sie zu öffnen. Was ihm natürlich nicht gelang. Sie war aus massivem Metall und fest verschlossen. Schließlich trabte der Bär - wie gestern auch - zu der alten Sequoia, die in gehörigem Abstand gegenüber der Eingangstür zum Blockhaus stand, lehnte sich an den dicken Stamm, richtete sich auf und rieb sein Fell gründlich an der harten Rinde. Es bereitete ihm sichtlich Freude, er schnaubte ein wenig und fast schien es Tim, als hörte er einen behaglichen Seufzer, als der Bär sich setzte, um sich auszuruhen. Vor ein paar Tagen hatte Tim dort einen Ballen altes Stroh ausgeschüttet, offensichtlich gefiel das dem Bären. Gegen den Baum gelehnt, die Hinterpfoten entspannt ausgestreckt, blickte er aufmerksam zur Haustür des Blockhauses. Wie er es den Tag zuvor auch schon getan hatte.
Timothy O'Neill stand hinter der massiven Tür, die oben ein kleines Fenster hatte, und betrachtete das Tier. Es war ein alter Braunbär, und eigentlich sollte er jetzt, im Winter, in seiner Höhle sein, Winterruhe halten wie alle Bären. Er war mager, aber immer noch imposant mit seinem breiten Rücken und den mächtigen Tatzen und Krallen. Aber er schien auch irgendwie müde und leicht entkräftet zu sein. Jedenfalls machte er keine Anstalten, dem Menschen hinter der Tür näherzukommen, den er zweifellos gesehen haben mußte. "Auch Einzelgänger wie Bären können offenbar einsam sein", dachte Tim unwillkürlich. "Er sucht Nähe, sonst wäre er nicht hier." Sofort allerdings fand er diesen Gedanken absurd und rief sich zur Ordnung - er meinte nämlich ganz generell, man sollte das Verhalten der Tiere nicht vermenschlichen, das hindere einen, die Natur zu sehen und zu verstehen, wie sie nun einmal sei. Merkwürdigerweise hatte Tim aber nicht den Eindruck, als müßte er sich vor dem Bären in acht nehmen, obwohl er natürlich wußte, daß es ein gefährliches Raubtier war, das man tunlichst nicht erschrecken oder gar reizen sollte. „Bären lieben’s im Grunde auch gemütlich“, dachte er amüsiert.
Das Klingeln des Telefons riß Tim aus seinen Betrachtungen.
„ Hi, Schatz, schlechte Nachrichten", die ob der somit angekündigten Hiobsbotschaft dennoch fröhliche Stimme seiner Frau Margaret holte ihn in die Gegenwart zurück. "Wir können heute nicht fahren, die Straßen sind zu, der Wetterbericht meldet weitere Schneefälle, Sturm mit starken Windböen, die Polizei rät, zuhause zu bleiben und bis morgen früh zu warten, das sei sicherer. Wir kommen dann morgen, so schnell es geht, und sind pünktlich zum Christmas-Day-Frühstück und zur Bescherung da!“
In den USA ist traditionell der 25. Dezember der wichtigste Weihnachtsfeiertag. Der Legende nach kommt Santa Claus in der Nacht davor mit seinem Rentiergespann vorbei und stellt die Geschenke via Schornstein zu. Morgens werden sie mit viel Freude von der Familie ausgepackt, oft noch im Schlafanzug.
Die Familie O’ Neill - Timothy, Margaret und ihre Kinder Robin und Leslie - wohnten in Woodland, rund 250 Meilen vom Lake Tahoe entfernt, wo ihr Blockhaus stand, Wochenend- und Feriendomizil in einem. Dort konnten sie schwimmen und Wakeboard fahren, Tim ging mit Robin fischen und Margaret bummelte gern mit Leslie durch die reizvollen Ortschaften. Sie stöberten im neueröffneten riesigen Buchgeschäft nach spannender Lektüre, tranken am See Cream Soda und aßen Burger, besuchten einen Wasserskikurs oder auch einen für Aquarellmalerei - sie hatten Zeit für Dinge, die in ihrem sonst sehr disziplinierten Tagesablauf keinen Platz fanden, weil die Zeit fehlte, und man aus vielerlei Gründen selbstverständlich nicht immer Burger und Ice Cream aß.
Timothy war in diesem Jahr ein paar Tage früher zum Lake Tahoe gefahren, um das Haus für die Weihnachtsfeiertage vorzubereiten: Es galt, die üblichen kleinen Reparaturen vorzunehmen, Vorräte für die Feiertage zu besorgen, zu schauen, ob genug Holz da war, mit dem man das Haus behaglich einheizen konnte. Geplant war, daß Margaret mit den Kindern abends am 24. Dezember kommen würde, um am nächsten Vormittag das Weihnachtsfest mit der Bescherung zu beginnen, wie es auch bei den O’Neills Tradition war. Nun also kamen sie erst morgen. Tim war ein wenig enttäuscht, aber beruhigt, daß die Familie nicht unversehens auf dem Weg zu ihnen vom Sturm überrascht worden war, sondern sicher zuhause in Woodland abwarten konnte.
„Margaret, Darling, schade, ich vermisse euch, habe grade den Lachs aufgetaut, wollte euch mit gegrilltem Fisch, Bratkartoffeln, Salat und Cranberry-Trifle überraschen!“
„Oh, Tim, das muß leider bis morgen warten! Wir freuen uns drauf, werde den Kindern Dein Menu verraten, ich bin sicher, sie sind ganz wild auf den Trifle! Sie lieben Deinen Zitronenkuchen und vor allem die Schlagsahne!“
„Es ist alles vorbereitet, es gibt eine riesige Schüssel voll. Ich werde sie im Kühlschrank versenken. Sie wartet auf euch.“
Margaret erzählte noch dies und das, von der Weihnachtsfeier der Kinder in der Schule, bei der Robin einen Wichtel gab und Leslie im Schulorchester Klarinette spielte, richtete die besten Grüße der Nachbarn aus, die es bedauerten, daß die O’Neills dieses Jahr nicht zum Dinner am 26. Dezember kommen konnten. Dann beendeten die beiden das Gespräch - voller Vorfreude auf den nächsten Tag. Und natürlich wurde auch nicht mit Ratschlägen fürs vorsichtige Fahren gespart.
Erst als Tim das Telefonat mit seiner Frau beendet hatte, fiel ihm ein, daß er nichts von der fürsorglichen Belagerung durch einen alten Braunbären gesagt hatte. Besser so, dachte er, vielleicht hätte sich Margaret sonst nur Sorgen gemacht.
Okay, jedenfalls mußte er nun das Weihnachtsessen versorgen, bis morgen kühl stellen. Der Eisschrank samt Vorratsschrank allerdings - alles befand sich in der durch die Stahltür gut vor Bären gesicherten Garage. Und um in die Garage zu gelangen, mußte er aus dem Haus, am Vorplatz vorbei gehen. Also am Bären vorbei, auch wenn dieser ein paar Meter weiter weg sein würde und, wie er feststellen konnte, immer noch sitzend vor sich hin döste. So schien es jedenfalls.
Timothy lud das Essen - den rohen Lachs, die Salatköpfe, die gekochten Kartoffeln und die riesige Schüssel mit Cranberry-Trifle - es war ein stabiles Keramikgefäß, bunt bemalt mit allerlei Früchten und Blumen - in einen Plastikkorb.
Was nun?
Nun muß man wissen, daß es auch bei Tim geschneit hatte. Nicht viel, nur ein bißchen, aber der Vorplatz war vollständig mit Neuschnee bedeckt. Und er war leicht abschüssig, neigte sich der Sequoia zu. Als die Kinder noch ganz klein waren, konnten sie die kleine schiefe Ebene nutzen, um ein bißchen Schlitten zu fahren. Ein leichter Schubs, und es ging sanft hinunter. Timothy schmunzelte, als er daran dachte …
Und da kam ihm eine Idee!
Er öffnete vorsichtig die Tür, der Bär richtete sich auf, beäugte den Menschen wachsam, aber nicht aggressiv. Auch Tim stand ganz ruhig da.
„Hallo, Bär. Schön, daß Du da bist. Offenbar sind wir heute beide allein. Meine Familie kommt erst morgen, und ich habe für sie ein Dinner vorbereitet, das sie jetzt nicht essen kann … Also sollst Du es haben. Mir scheint, Du kannst es gut gebrauchen. Fröhliche Weihnachten, Bär!“
Und er griff langsam - um den Bären nicht zu erschrecken - nach dem leichten Schlitten, der seit vielen Jahren immer neben der Eingangstür stand, setzte den Korb vorsichtig darauf, gab ihm einen kleinen Schubs - und sah zu, wie das improvisierte Schneemobil sehr sanft und langsam auf die Sequoia zufuhr.
Nun wäre der Bär natürlich kein richtiger Bär gewesen, wenn er nicht sehr schnell den Duft von Lachs und Zitronenkuchen mit Cranberries wahrgenommen hätte, sich also rasch aufrichtete und dem Schlitten entgegen hechtete. Er enterte ihn kurz bevor er den Baum erreichte und angelte sich als erstes den Lachs, den er mit sichtlichem Appetit und sehr schnell verschlang. Es folgten die Kartoffeln mit Salat. Dann allerdings schien sich der Bär ein wenig Ruhe zu gönnen. Er setzte sich auf den Schlitten, den Rücken an den Baum gelehnt, die Hinterpfoten von sich gestreckt und hielt zwischen seinen Tatzen die Schüssel mit dem Cranberry-Trifle. Die schleckte er genüßlich aus. Kein Zweifel: Ein absoluter Feinschmecker! Einmal schaute er zur Haustür hin, hinter der Tim stand und den Bären beobachtete. Und es schien Tim, als zwinkere ihm der Bär zu oder als würde er lächeln.
Aber das war natürlich absurd. Man sollte Tiere nicht vermenschlichen!
Am nächsten Morgen war der Bär verschwunden. Und er kam auch nicht wieder.
Gerdi, im November 2023
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Schneeflocken tanzten sacht und schauten durchs Gartenfenster. Brigitte und Peter hatten es sich gemütlich gemacht. Zwei Tassen mit duftendem Tee leisteten den kolossalen Tortenstücken auf dem kleinen Couchtisch Gesellschaft. Ein braunes, etwas abgegriffenes Fotoalbum ruhte aufgeschlagen auf den Oberschenkeln von Pit. Sinnend betrachteten beide die mit gelblichem Stich versehenen Fotos aus einer lange vergangenen Zeit. Leicht drückte Gigi Pits Hand. „Weißt du noch - es schneite wie heute.“ „Ja“, Ihr Mann schmunzelte: „Und es war Heilig Abend wie heute“.
Häufig hatten sie die Geschichte hinter den Bildern erzählt. Ihren Kindern, ihren Enkeln, ihren Freunden. Die Geschichte ihrer ersten Begegnung. Damals, am 24. Dezember 1975, vor nunmehr 47 Jahren. Weit weg von ihrem jetzigen Wohnort Meersburg am Bodensee. Mitten in den Pyrenäen auf einem schlecht beleuchteten Parkplatz vor einer Tankstelle, die über die Feiertage geschlossen hatte.
Brigitte, die Stuttgarter Maskenbildnerin mit französischen Wurzeln, hätte im Bus sitzen bleiben können, hier auf der halben Strecke von Perpignan nach Ax-les-Thermes, wo sie ihre Eltern besuchen wollte, die in diesem reizenden, kleinen Badeort seit Jahren die warmen Quellen genossen und das Jahr ausklingen ließen. Eine kurze Pause hatte der Busfahrer der Hand voll Fahrgästen verkündet. Und Brigitte nutzte sie, sich ein wenig die Beine zu vertreten und frische Luft zu schnappen. Denn das war bei den zwei Kettenrauchern vor ihr unbedingt mal nötig. Ihr Blick schweifte umher: Die Tankstelle - trotz Leuchtreklame - geschlossen. Der Wald verschwand fast im aufziehenden Dunkel. Aber dort, hinter einigen Kiefern, könnte das nicht eine Stechpalme sein? Was für eine schöne Weihnachtsdekoration! Doch so einfach war es nicht, diese hartnäckigen Zweige zu brechen. Sie zog, sie knickte, und der Christdorn rächte sich. Ein ziemlich langer, häßlicher Riß zierte den Ärmel ihrer schicken Steppjacke. Und damit nicht genug - auch diese gemeine Wurzel hatte sie im Dämmerlicht übersehen. Brigitte brauchte ein Weilchen, sich aufzurappeln, die Zweige zu bündeln und vorsichtigen Schritts den Rückzug anzutreten.
Quel malheur! Sie stand mutterseelenallein auf dem Parkplatz vor der verlassenen Tankstelle. Und in der Ferne grüßten durch eine aufziehende Nacht und einzelne, tanzende Schneeflocken die roten Schlußlichter ihres Reisebusses. Ihre Handtasche, Geld, Führerschein, die Weihnachtsgeschenke für ihre Familie - alles, alles nahm er mit! Fassungslos, verloren, verzweifelt mußte sie sich eingestehen, nicht einmal genauer zu wissen, wo sie sich hier befand. Bis auf die milchigweiße Reklame des Patrol-Schildes lag ihre Umgebung im tiefsten, finstersten Pyrenäen-Dunkel. Kein Auto weit und breit - warum auch? Heute war Heilig Abend, Tag der Familie und Freunde. Und ihr Geschenk war die Einsamkeit, das Verlorensein. Das war bitter. Brigitte begann zu frieren.
Peter, der junge Fotograf aus Oberbayern, hätte rechtzeitig tanken können. Er hatte sich mit seinen französischen Freunden Luc und Pierre, zwei ehemaligen Studienkollegen aus Münchner Zeiten, im Skigebiet Grandvalira verabredet. Andorra war nicht mehr weit, keine fünfzig Kilometer mehr bis zu den beiden Spaßvögeln, einer gemütlichen Theke, knisterndem Kaminfeuer und einem herrlich kühlen Weizenbier. Wobei - hier mußte doch mal eine Station-essence kommen!?
Dunkle Pyrenäenwälder säumten die Landstraße schon seit einiger Zeit, gerade mal ein Wagen kam Peter entgegen. Der in bester Laune den neuesten Song von Gérard Lenorman La ballade des gens heureux vor sich hinsummte. Schneeflocken glitzerten im Scheinwerferlicht, die Vorfreude auf eine Woche auf Ski total - auf der Piste und im tiefen Schnee, den allseits beliebten Apres-Ski nicht zu vergessen - war groß. Doch urplötzlich stotterte der Motor. Die Tankuhr zeigte das ganze Desaster. Der Zeiger stand auf Null, der alte VW ruckelte und bockte, drohte mit Arbeitsverweigerung. Aber - Quelle chance! Fünfhundert Meter vor ihm schälte sich die Leuchtreklame einer Tankstelle aus der Dunkelheit. Nur merkwürdig, daß Zapfsäulen und Kassenraum unbeleuchtet waren. Mit den letzten Tropfen Benzin kam der nun gar nicht mehr fröhliche Lenorman-Fan zum Stehen. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Der Unglücksrabe fluchte zweisprachig.
Brigitte äugte vorsichtig auf den heranzuckelnden dunklen VW, der mit einem deutschen Kennzeichen mitten im Lichtkreis der Reklame stehen blieb. Ganz vorsichtig traute sie sich aus dem tiefen Schatten, nachdem sie den heftig schimpfenden jungen Mann gebührlich in Augenschein genommen und ein halbwegs sicheres Gefühl dabei hatte. Sie mußte ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt haben, als sie ihn unvermittelt ansprach. Er fuhr herum, starrte sie an und schnappte nach Luft.
Peter war perplex und fragte sich, was eine junge Frau vor einer geschlossenen Tankstelle in recht unpassender, weil überhaupt nicht wetterfesten Bekleidung zu späterer Stunde hier im tiefsten Pyrenäen-Winterwald zu suchen hatte. Genau das fragte er sie, nachdem er sich auf Französisch vorgestellt hatte.
So studierten die Schicksalsgenossen Peters Straßenkarte im Schutze seines alten VW, nachdem sie festgestellt hatten, daß sie, aus unterschiedlichen Richtungen und mit grundverschiedenen Absichten unterwegs, jetzt einen gemeinsamen Weg aus diesem Schlamassel finden müßten. Sie waren zum Deutsch übergegangen und überlegten, wie weit es wohl noch bis Ax-les-Therme wäre und wo genau sich ihre Tankstelle befinden könnte. Vielleicht war auch ein Weiler in der Gegend, wo man Hilfe finden und telefonieren könnte. Viele unbeantwortete Fragen, denn der Maßstab der Karte gab das alles einfach nicht her. So beschlossen sie, der verlassenen, dünn verschneiten Landstraße Richtung Westen zu folgen.
Sie waren vielleicht zwanzig Minuten unterwegs, als die dicht stehenden Fichten sie und die Straße freigaben und einen weiten Blick gestatteten in ein hügliges Land mit mancher Buschinsel und einzelnen kahlen Bäumen, alles in ein makelloses, vom Vollmond beschienenes Weiß gehüllt. So weit ihr Blick auch schweifen konnte, eine Ansiedlung, menschliche Behausungen waren nirgends zu sehen. Dafür schneite es jetzt heftiger, und Brigitte begann schmerzhaft die aufsteigende Kälte zu spüren. Ihre jetzt völlig durchnäßten Slipper waren nicht das einzige Bekleidungsstück, das die Bezeichnung bedingt winterfest verdiente. Da war Peter klar besser dran, der sich ja perspektivisch fürs Skifahren ausgerüstet hatte. Lediglich einen Schal samt Wollmütze hatte er zur Unterstützung seiner Begleiterin beisteuern können.
Sie mochten sich täuschen, aber flackerte nicht dort oben am Waldessaum ein Licht? Es schien, als wäre dieser unwirtliche Pyrenäenflecken tatsächlich bewohnt, denn eine vom Schnee fast schon wieder zugewehte Reifenspur führte bergan. Steil war es stellenweise schon, auch glatt, und die Piste war eben nur ein Ziehweg für Wanderer, Kühe oder einen Jeep. Die beiden rutschten, schnauften, schlidderten vorwärts, als ihnen lautes Gebell entgegenschlug. Und schon stand vor ihnen hechelnd und gleichwohl majestätisch ein riesiger Hirtenhund mit schneeweißem Fell. Der hielt sich nicht lange mit der Vorrede auf, bellte scharf, wandte sich bergan und trottete los. Doch nur ein paar Schritte, blieb dann wieder stehen, drehte sich um zu den zwei verlorenen Gestalten und gab Laut. Diese begriffen langsam, daß es sich hier eventuell um ein Empfangskomitee handeln könnte, und folgten zögernd.
Der junge Schäfer Sylvain stand vor seiner Hütte und war überrascht, am Heiligen Abend Besuch zu bekommen. Das war in dieser Einsamkeit, bei diesem Schneetreiben und zu diesem hohen Festtag schon etwas ganz Besonderes. Er kraulte seinem zuverlässigen Kumpan Noëlle das dichte Nackenfell hinter den Ohren und schaute sich die zwei schnaufenden und in einem Fall vollkommen unpassend gekleideten Menschlein überrascht an, wie sie irgendwie hilflos und frierend vor ihm standen. Während sein Hirtenhund gemächlich zum nahen Unterstand mit den schlafenden Schafen trottete. Da war sein Platz, da wurde er gebraucht. Das mit den zwei Touristen war eine nette Nebensache. Jetzt hieß es, weiter wachsam zu sein und die ihm anvertrauten Tiere zu beschützen. Zwei Lämmer waren vor kurzem geboren worden.
Behaglich warm war es in Sylvains einfacher Behausung. Das Feuer knisterte, und ein starker, duftender Tee in verbeulten Blechtassen wärmte die Hände und die Gemüter der unangemeldeten Besucher. Brigitte und Peter erzählten ihre so unterschiedlichen, gleichwohl ineinander verwobenen Geschichten. Sie von spitzigem Christdorn und einem Busfahrer, der es eilig hatte. Er von seinem motorisierten Kumpel mit dem großen Durst, dem er nicht genug Aufmerksamkeit schenkte. Und der gastfreundliche Schäfer von seiner Ersten Weihnacht bei der Herde hier in den tiefen Pyrenäen.
Es wurde eine lange Nacht mit vielen Gesprächen, Erzählungen. Und was unsere beiden Pechvögel noch nicht wußten: Es war der Anfang einer neuen, einer wunderbaren Geschichte, die da am Heiligen Abend des Jahres 1975 auf einem verschneiten Pyrenäen-Weiler begann.
Pit blätterte langsam weiter in ihrem alten Fotoalbum. „Was für ein wundervolles Hochzeitskleid du hattest, Gigi!“ „Ja, und du siehst auch ganz ordentlich aus. Sogar eine Krawatte hattest du umgebunden.“ Sie neckten sich immer wieder einmal gern, die zwei. „Ja, Pit, und schau. Da ist Sylvain, unser Trauzeuge. Wie schön, daß er uns morgen besuchen wird!“
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Im Nebel
„Sandra, Phil! Stopp!!!!“
Benny schrie aus Leibeskräften und betete, daß seine beiden Begleiter rechtzeitig anhielten. Der Nebel kam überfallartig, kroch als dicke, bedrohlich graue Walze über den Paß und hatte ihn fast erreicht. Benny, der immer vorsichtige und für sein planerisches Talent berühmte Benny, erschrak: Wieso hatte er den Wetterbericht nicht ernst genommen? Gewarnt wurde vor plötzlichem Wetterumschwung, eventuell Schnee und Nebel mit geringer Sichtweite in höheren Lagen. Die drei waren am Vormittag - bei strahlendem Sonnenschein und klirrender Kälte - von Hofgrund zum Grimmelsjoch aufgestiegen, wollten die rund 11 Kilometer lange Piste - eine zwar ausgeschilderte, aber nicht präparierte Tiefschneeabfahrt - nach Waldnegg, nehmen. Petra, eine Freundin vom örtlichen Tourismusbüro, würde sie dort abholen, um gemeinsam nach Mittisau in Sandras Wohnung zurückzufahren, wo alle vier bei Fondue und Feuerzangenbowle den 24. Dezember feiern wollten.
Nun erwischte sie offenbar diese Waschküche!
„Hey, Benny? Was ist denn los? Keine Angst, wir warten doch auf Dich!“
Benny glaubte fast hören zu können, wie sich die beiden amüsierten: Sandra und Phil waren rasante Skifahrer, ihnen konnte es nie schnell genug gehen. Sie schätzten natürlich Bennys fast generalstabsmäßige Vorbereitung der gemeinsamen Unternehmungen - das nahm ihnen lästige Arbeit ab - waren aber auf der Piste kaum zu bremsen, schon gar nicht bei diesem herrlichen Tiefschnee.
Es war eine einmalige Skitour: Im oberen Abschnitt, auf über 2000 Meter, eine mäandernde Strecke zwischen Hügeln hindurch, teils mit steilen Etappen, dann wieder sanft wie auf einer Alm, gesäumt von den umliegenden Berggipfeln. Von seinem jetzigen Standort konnte Benny seine Kameraden nicht mehr sehen, sie waren schon losgefahren, während er noch seine Bindung kontrollierte. Man hatte in dieser bei blauem Himmel und Sonnenschein zauberhaften und glitzernden Bergwelt keinen Sichtkontakt zu den Vorausfahrenden, sie verschwanden einfach hinter der nächsten Kurve, hinter den nächsten hohen Felsbrocken, die hier so malerisch verstreut herumlagen. Es war klar, daß Sandra und Phil die Gefahr noch gar nicht ahnen konnten.
Benny stieß sich schnell mit den Skiern ab und stand wenig später neben den beiden.
„Rasch, laßt und schnell von hier verschwinden, der Nebel kommt, und wir sollten tunlichst vor ihm im Tal sein. Los Leute, schaltet den Turbo ein und bleibt bloß zusammen!“
Aber es nutzte nicht viel: Unversehens fanden sie sich eingehüllt in eine graue, undurchdringliche Wolke, die Pistenmarkierungen mit den rot gestrichelten, runden Schildern waren nicht mehr zu sehen. Alles war still, sie befanden sich noch in einem nicht ganz ungefährlichen Gletschergebiet, fühlten sich wie in Watte gepackt und würden bei dieser geringen Sichtweite Stunden brauchen, bis sie sich - vorsichtig, schrittweise - von Markierung zu Markierung vorgetastet hätten, auch, um Unebenheiten der Piste zu erfühlen. Bald würde die Dämmerung hereinbrechen. Eile war bei aller Vorsicht geboten.
Die drei schwiegen. Blieben dicht zusammen, spähten nach den Markierungen, fuhren erst weiter, wenn sie sicher waren, daß sie die Strecke einigermaßen überblicken konnten. Auch passierten sie eine Tafel, die dringend vor Verlassen der Piste warnte: Gletscherspalten! Jedes Zeitgefühl ging verloren, doch irgendwann meinten sie, das Gletschergebiet verlassen zu haben. Der Nebel lichtete sich, aber es dämmerte schon, dichter Schneefall setzte ein, es begann zu stürmen, der Wind heulte. Es wurde immer dunkler, immer kälter, immer undurchdringlicher. So fuhren sie mit dem Mut der Verzweiflung weiter, bis Phil abrupt stehen blieb:
„Schaut mal, dort, rechts von uns, ich kann ein Licht sehen!“
Sie fuhren darauf zu und standen bald vor einer Berghütte mit anheimelnd erleuchtetem Fenster. Erleichtert lösten sie die Skibindungen, stellten ihre Bretter ordentlich an die Hüttenwand, klopften sich den Schnee von den Jacken, zogen die Handschuhe aus. Die Tür war unverschlossen, sie traten vorsichtig ein, sahen sich um.
„Hallo! Ist hier jemand?“
Natürlich mußte hier jemand sein, im Kamin brannte ein wenn auch schwaches Holzfeuer, dicke Scheite lagen davor. Auf dem Tisch stand ein Holztablett mit einem großen Laib Brot und einem gehörigen Stück Bergkäse, daneben ein hellgrauer, bauchiger Krug aus Steingut, bemalt mit einer blauen Blumengirlande, und einige Teller und Becher mit ähnlichen Ornamenten.
„Wo sind die Leute?“, fragte Phil verwundert, „sie müssen doch grade noch hier gewesen sein? Wer macht Feuer und geht dann weg?“
Am liebsten hätten sich die drei an den Tisch gesetzt - aber das ging doch nicht! Anderen das Abendessen wegzufuttern. Schon wollte Benny wieder nach draußen, um zu sehen, ob vielleicht jemand in der Nähe wäre, da hielt Sandra ihn zurück:
„Warte mal, Benny, hier ist eine Nachricht! Habe sie beim Brett mit dem Brot entdeckt, ich lese mal vor“:
❖ Für die, die nach uns kommen. Für euch. ❖
Verwundert schauten sich die drei an.
„Also - ich sehe das so“, begann Phil, „da haben sich die Leute grade zum Essen hingesetzt, dann ist irgendwas dazwischengekommen. Also sind sie aufgebrochen, vermutlich noch bei Tageslicht, wollten aber die Hütte warm halten - schließlich könnte ja noch jemand kommen, dafür sind die Hütten ja da: Wanderer, Tourengeher zu beherbergen.“
„Aber komisch ist das schon - einfach ein Feuer brennen zu lassen“, meinte Sandra.
„Na ja, einen Waldbrand kann es ja nicht geben“, überlegte Benny, „und der Kamin ist stabil, da fällt kein brennender Scheit einfach so heraus, das Feuer geht nach und nach aus, und Brot und Käse werden schließlich tiefgekühlt bei diesen Temperaturen.“
„Also dann“, schmunzelte Phil in einem Anflug von Heiterkeit, „laßt uns essen, bevor’s kalt wird.“
Mehr aus Gewohnheit denn aus Überzeugung prüfte Sandra noch einmal ihr Handy.
„Benny, Phil - nicht zu fassen, es gibt wieder Empfang. Aber sehr schwach.“
Und rasch schrieb sie eine kurze SMS an Petra, die in Waldnegg wartete und sich vermutlich riesige Sorgen machte. Alle waren sehr erleichtert, als wenig später die Antwort kam:
„Okay, bis morgen.“
Erleichtert setzten sich die drei an den groben Holztisch. Phil schnitt für jeden große Scheiben von Brot und Käse ab, Sandra schenkte den Wein aus dem Krug ein. Benny, der den Wetterbericht am Morgen ignoriert hatte, war unendlich froh, daß der Tag ein so gutes Ende nahm. Er hob seinen Becher, prostete den anderen zu und sagte aus tiefstem Herzen:
„Frohe Weihnachten, Sandra und Phil.“
Für die drei war es das schönste Festmahl, das sie bisher erlebt hatten.
Am nächsten Morgen präsentierte sich die sonnige Welt wieder in blau und weiß, Petra holte die Freunde in Waldnegg ab, und sie verbrachten frohe Tage.
Phil, Sandra und Benny verabredeten sich für den Sommer zu einer Wanderung den Berg hinauf zur Hütte, in der sie Zuflucht fanden.
* * *
Wieder war es ein strahlender Tag, aber es war Frühsommer mit angenehmen Temperaturen hier oben in den Bergen. Sandra, Phil und Benny, unsere drei Tiefschnee-Spezis, nahmen den Wanderweg von Waldnegg aufs Grimmelsjoch. Das heißt, sie wollten nur bis zu „ihrer“ Hütte. Sie mußte auf einer sanften Alm stehen, so ihre Erinnerung. In der Regel war der sommerliche Pfad mit der Piste im Winter identisch - also müßten sie zwangsläufig auf ihr winterliches Asyl stoßen.
Nach etwa zwei Stunden Aufstieg kamen sie zu einer Alm: Ein Hirte hütete dort eine große Schafherde. Es war eine malerische Landschaft, im Sommer mindestens ebenso reizvoll wie im Winter. Jetzt gab es blühende Alpenrosen und viele bunte Gebirgsblumen, die umliegenden Berggipfel trugen noch leichte Schneehauben, Moorbirken säumten die saftigen Wiesen, ein Bach schlängelte sich in der Senke, führte zu einem winzigen See, ein blaues Auge in der grünen Weite.
Allerdings war keine Hütte zu sehen! Vielleicht die falsche Alm? Sie beschlossen, den Hirten zu fragen. Er könnte ihnen sicher helfen. Sie näherten sich der Schafherde und wurden zunächst mißtrauisch von einem Berner Senn beäugt. Der Schäfer redete beruhigend auf den Hund ein, gab ihm einen freundlichen Stups, der ihn offenbar ermunterte, die fremden Besucher ausführlich zu beschnuppern. Der einheimische Hund reagierte auf die Kontaktaufnahme mit den fremden Menschen mit einem freudigen Schwanzwedeln! Damit war das Eis gebrochen. Die drei Freunde erzählten dem jungen Hirten von ihrem winterlichen Skiabenteuer im Nebel. Auf ihre Frage nach der Hütte, dieser wunderbaren Zuflucht, wurde er nachdenklich:
„Es gibt hier keine Hütte. In früherer Zeit allerdings, so erzählen es die Dörfler im Tal, standen hier die armseligen Behausungen zweier verfeindeter Brüder, die sich um die Nutzung einer Quelle für ihre Schafe und Ziegen stritten - es dürften nicht viele gewesen sein. Eine eigentlich sinnlose Fehde, Wasser gab es ja genug, aber der Streit wurde immer erbitterter. Eines Tages kämpften sie so heftig miteinander, daß sich beide schwer verletzten. Das brachte sie aber offenbar endlich zur Besinnung. Zum Zeichen ihrer Versöhnung sollen sie am Ursprung der Quelle einen Gedenkstein aufgestellt haben. Kommt mit, ich führe euch hin, es ist nicht weit.“
Benny, Sandra und Phil folgten dem Hirten. Nach einem kleinen Spaziergang über die Wiesen erreichten sie die Quelle: Ein leise plätscherndes Wasser entsprang direkt dem Boden, gesäumt von einem Kranz aus Moos und Moorbirken, kleinen Blumen in Gelb und Blau. Von dieser Quelle also wurde das Flüsschen und der kleine blaue See gespeist, beides hatten sie beim Aufstieg gesehen. Daneben stand ein imposanter dunkelgrauer Granitblock, der dank der vielen Quarz- und Feldspatkörner in der Sonne glitzerte. Er war fachkundig behauen, bildete oben eine asymmetrische Spitze und trug eine Tafel, auf der in altmodischen, metallenen Lettern zu lesen war:
❖ Für die, die nach uns kommen. Für euch. ❖
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🎄 Bobby, der Weihnachtshund
Carin Koeberle
Kurt Hartmann stand am Küchenfenster und sah besorgt dem immer dichter werdenden Schneetreiben zu. Seit dem Tod seiner Frau vor gut einem Jahr lebte er alleine in dem großzügigen Bungalow. Er liebte dieses Haus, aber Schnee schippen gehörte nicht dazu. Eine Stunde später wurde es heller, sogar die Sonne riskierte einen Blick auf den weißen Teppich, der sich sanft über das Land gelegt hatte.
Kurt war trotz seiner einundachtzig Jahre eigentlich immer noch eine stattliche Erscheinung. In den letzten Monaten hatte er sich allerdings zusehends verändert. Die Einsamkeit hatte seinen blauen Augen den Glanz genommen, seine hochgewachsene schlanke Gestalt gebeugt.
Jetzt, zwei Wochen vor Weihnachten, wurde er sich der Leere in seinem Leben besonders bewusst. Schwerfällig machte er sich daran, die kleine Schneefräse anzuwerfen. Während er sie den Gehweg vor dem Haus und der Garageneinfahrt rauf und runter schob, fiel sein Blick zur Straßenecke. Dort saß neben dem Laternenpfahl ein ziemlich großer, zottiger Hund.
‚Na, den hätten sie aber bei dem Wetter auch mit ins Haus lassen können‘, dachte Kurt. Er nahm an, dass die Besitzer in einem der Nachbarhäuser einen Besuch abstatteten.
Am folgenden Tag war es zwar kalt, aber sonnig. Kurt entschloss sich aus einem unerfindlichen Grund, einen kleinen Spaziergang zu machen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das zum letzten Mal getan hatte. Als er an die Straßenecke kam, saß da wieder der Hund.
„Musst du schon wieder vor der Tür bleiben?“ Er strich ihm mitfühlend über das grauweiße Fell und überlegte, ob das wohl ein Bobtail war. Das große Tier leckte zutraulich seine Hand und sah ihn hinter einer Gardine aus langen Haaren traurig an.
Als Kurt Hartmann am folgenden Tag zur Mittagszeit zufällig aus dem Küchenfenster sah, saß der Bobtail vor seinem Gartentor. „Na so was!“ rief Kurt erstaunt aus und eilte mit einem Stückchen Wurst vor die Tür.
„Was machst du denn hier?“ fragte er und gab dem Hund die Wurst, die dieser gierig hinunterschlang. Kurt strich ihm übers Fell, das sich kalt und stumpf anfühlte.
„Du zitterst ja vor Kälte, mein Freund. – Komm rein und wärm dich auf,“ sagte er aufmunternd und ging zur Haustür zurück. Der Hund folgte ihm sofort. Kurt holte seinem tierischen Gast eine Decke, die er vor dem Kamin ausbreitete.
„So, hier kannst du dich erst einmal aufwärmen, und dann gibt es etwas Gutes für dich zu essen.“ Kurt eilte in die Küche, um sein Versprechen in die Tat umzusetzen. Aber das war einfacher gesagt als getan. Er sah sich in der Küche um und überlegte: ‚Was soll ich ihm denn geben?‘ Er hatte noch nie einen Hund gehabt, wusste aber, dass sie kein Essen vom Tisch der Menschen bekommen sollten. Er hatte aber nur noch ein paar Reste seines eigenen Mittagessens.
‚Da wird er bestimmt nicht gleich krank davon. – Einmal ist kein mal!‘ Kurz entschlossen häufte er die Kartoffel- und Gemüsereste auf einen Teller, mischte alles durch und trug es mit einer Schale lauwarmem Wasser zum Kamin.
„Mehr kann ich dir heute leider nicht bieten,“ bedauerte er. Der Hund erhob sich rasch, leckte Kurts Hand und machte sich über den Teller und das Wasser her. Bevor es sich sein Gastgeber in dem Sessel vor dem Kamin so richtig bequem gemacht hatte, war der Teller blank geleckt und die Wasserschüssel leer.
„Na du hast aber Kohldampf gehabt!“ staunte der alte Herr. „Nachdem du so schön aufgegessen hast, bleibt das Wetter auch ganz bestimmt schön.“ Er kraulte das verfilzte und ziemlich schmutzige Fell. Der große Hund legte sich zufrieden wieder auf die Decke und schlief kurz darauf ein.
Für den Rest des Tages schlich Kurt Hartmann auf leisen Sohlen durchs Haus, um ihn ja nicht zu wecken. Gleich morgen früh würde er im Supermarkt ordentliches Hundefutter kaufen. Er setzte sich an den PC und informierte sich über Hunde im Allgemeinen und Bobtails im Besonderen. Er erfuhr, dass es sich dabei um eine alte englische Hunderasse handelte, die als guter Jagdhund gilt, aber auch als englischer Schäferhund bekannt ist.
In dieser Nacht schlief Kurt Hartmann das erste Mal seit langem wieder gut. Als er am Morgen aufstand, hockte sein Gast bereits Schwanz wedelnd im Türrahmen. Nach einem gemeinsamen Frühstück, das für den Bobtail nochmals nicht Hunde gerecht ausfiel und Kurt ein schlechtes Gewissen bescherte, machte sich der Hausherr auf zum Einkauf. Der Hund blieb wie selbstverständlich auf seiner Decke vor dem Kamin zurück.
Als Kurt an der Straßenecke vorbeikam, wurde ihm klar, dass er den Besitzer des Hundes ausfindig machen musste. Er entschloss sich, einen Zettel an den Laternenpfahl zu kleben: Hund zugelaufen, abzuholen bei usw. Er hatte zu seiner Überraschung festgestellt, dass der Hund kein Halsband trug und auch keine Markierung hatte.
In den nächsten Tagen setzte Tauwetter ein. Der Hund, der inzwischen auf den Namen ‚Bobby‘ hörte, war bereits zu einem festen Bestandteil von Kurts Alltag geworden, der nur vom täglichen bangen Blick zu dem Laternenpfahl an der Ecke getrübt wurde. Aber der Zettel mit Kurt Hartmanns Telefonnummer hing immer noch dort. Niemand schien den Bobtail zu vermissen.
Die Tage vergingen wie im Flug. Bobby hatte inzwischen einen ausgiebigen Besuch im Hundesalon hinter sich, und nun sah man, was für ein prächtiges, noch junges Exemplar seiner Rasse er war. Er war ein äußerst aufmerksamer Zuhörer, und so kannte er nicht nur Kurts Lebensgeschichte, sondern auch so manches Geheimnis des alten Herrn, das dieser nicht einmal seiner Frau anvertraut hatte.
Abends, wenn sie gemeinsam vor dem Kamin saßen, Kurt bei einem guten Glas Bordeaux, er bei einem guten Hundeknochen, erzählte Kurt aus seinem langen Leben. So viel wie in diesen paar Tagen hatte Kurt Hartmann das ganze letzte Jahr nicht geredet, und es fiel ihm immer noch mehr ein, was er Bobby unbedingt erzählen musste. Zwei Tage vor Heilig Abend kauften sie gemeinsam einen kleinen, aber gut gewachsenen Weihnachtsbaum. Unter Bobby’s kritischem Kennerblick schmückte Kurt den Baum mit glänzenden Glaskugeln, Lametta und richtigen Kerzen. „Du weißt, dass du da nicht zu nahe dran vorbei gehen darfst, sonst wird dir ganz schön heiß im Pelz,“ scherzte Kurt.
Bobby quittierte das mit einem kurzen`Wuff`: Was denkst du denn, ich bin doch nicht blöd! „Na dann ist es ja gut.“
Am Heiligen Abend wurde Kurt schwer ums Herz. Was sollte er tun, wenn Bobbys Besitzer sich doch noch meldeten? Bobby wieder hergeben? Allein der Gedanke daran bereitete ihm körperliche Schmerzen. Er überlegte den ganzen Vormittag. Bobby, der fühlte, dass etwas seinem Freund großen Kummer bereitete, schmiegte sich eng an ihn und ließ ihn keine Sekunde allein. Selbst wenn Kurt das Badezimmer aufsuchte, blieb er vor der Tür sitzen.
Am frühen Nachmittag hatte Kurt seine Entscheidung getroffen. „Komm Bobby, wir gehen ein Stück spazieren. Wir haben etwas Wichtiges zu erledigen.“
Zielstrebig ging Kurt zur Straßenecke, entfernte entschlossen den Zettel mit seiner Telefonnummer, faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Manteltasche.
„So Bobby, ab jetzt wohnst du für immer bei mir.“ Bobby machte zweimal „Wuff,“ was soviel hieß wie: Na klar, ich gehöre zu dir.
Es wurde für Kurt Hartmann eines der schönsten Weihnachten seines Lebens und der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
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🎄 Ein höchst beliebtes Weihnachtsgeschenk
Heinz Frantzen
Töppen nannten wir sie bei uns im Berlin der Nachkriegszeit. Spezielles Schuhwerk, mit dem man auf jedem Fußballplatz eine beneidenswerte Figur abgab. Wunschtraum vieler Jungen und neben einem Fußball ein Weihnachtsgeschenk, was praktisch alles andere in den Schatten gestellt haben dürfte. Die Fußballschuhe waren aus Leder, hatten Stollen, häufig aus Alu, und eine verstärkte Kappe. Letztere durfte in unserer Zeit nicht mehr durch Stahl verstärkt werden. Stahlkappen-Töppen waren verpönt, aber der eine oder andere hatte sie von seinem Vater oder Großvater. Und die hatten sie noch durch den Krieg geschleppt. Man sah es den Schuhen nun mal nicht an. Nein - man fühlte es bisweilen, und das recht schmerzhaft. Aber - was soll’s, wer hatte schon so tolles Schuhwerk in den fünfziger Jahren.
Überhaupt: Fußballplatz! Wenn zwei zusammengenagelte Tore dastanden, war das die selbstverständliche Aufforderung zum Knödeln. Größe, Abmaße, Untergrund - völlig egal. Reguläre Plätze, auf denen in den 50er und 60er Jahren Fußball gespielt wurde, hatten meist einen harten, schwarzen, staubigen Schotter als Belag. Rasenplätze waren die absolute Ausnahme und nur den besten Vereinen vorbehalten. Unsere Bälle waren aus Leder, mußten gut gefettet werden, sonst saugten sie sich bei Regen schnell voll Wasser und wurde schwer wie ein Stein. In diesem Fall ging man manchem Kopfball gern aus dem Weg, besonders dann, wenn der Torwart einen hohen Abschlag machte und man den Ball annehmen wollte. Man ließ ihn erst einmal tippen. Sonst brummte der Schädel gewaltig. Ging ein Ball kaputt, begann die Suche nach einem Fachmann, der, falls es noch ging, mit Nadel und Faden reparieren konnte. Mancher Schuster machte das mal nebenbei und ohne Geld. Auch der eine oder andere Platzwart verstand sich in dem Handwerk. Wir Jungen gingen höchst sorgfältig mit unserem Spielgerät um. Wer einen hatte, hatte Freunde, Anerkennung. War beliebt, wurde gebraucht.
Fußball-Vereine hatten zur damaligen Zeit starke Anziehungskraft. Wir Jungen konnten uns austoben, die Eltern wußten, wo wir waren. Die Fünffünfzig Monatsbeitrag waren aufzubringen. Hinzu kamen allerdings noch die Kosten für das Trikot und die Hose, Stutzen und - nicht jeder hatte sie - Schienbeinschoner. Außerdem mußte jeden zweiten Sonntag mit Fahrgeld gerechnet werden, wenn es zum Gegner ging. Wir liebten unsere Vereine. Nicht selten blieb man ihnen ein Leben lang treu. Als Fan, Mitglied, manche auch als Betreuer, Trainer, Mäzen.
Aber auch abseits des organisierten Sports hatte der Fußball uns Jungen voll im Griff. War irgendwo ein Plätzchen - eine Wiese im Park, eine kaum befahrene Straße, ein größerer Hinterhof, eine Toreinfahrt - schon war die Sache klar. Als Markierung fürs Tor diente praktisch alles, falls nötig: der Mülleimer, die Jacke, Schultasche, Zweige. Und schon ging’s los. Häufig wurde auf ein Tor gespielt. Das war praktisch und schnell zu organisieren. Drei bis fünf Mann mußten es sein. Einer ging immer ins Tor. Und schon beim Zwei-gegen-Zwei konnte die individuelle Technik blitzen, daß es so eine Freude war. Vorbilder gab es genug. Jeder von uns kannte die deutsche Weltmeisterelf von 1954. Toni Turek, Jupp Posipal, Maxl Morlock, Fritz Walter, Helmut Rahn - und wie sie alle hießen. Sie waren unsere Helden.
Bei unseren Knödeleien waren lädierte Knie völlig normal, auch Hose und Hemd konnten schon mal in Mitleidenschaft gezogen werden. Und die Töppen, die trug man nur im Verein. Zu richtigen Spielen. Die normalen Straßenschuhe, die für alle Tage, von denen wir meist nur ein, zwei Paar hatten, mußten das aushalten. Irgendwann gab’s auch wieder neue, wenn man rausgewachsen war.
Sternstunden für uns Jungen waren die Liga- und Meisterschaftsspiele der Männer. Unvergessen für mich das Jahr 1963, in dem die Bundesliga startete. Unsere Berliner Hertha BSC spielte im randvollen Olympiastadion, und mein Vater hatte zwei Karten ergattert. Das Spiel hätte besser laufen können für uns Berliner. Bei ihrem 1 : 1 ließen sie die Nürnberger einen Punkt mit nach Hause nehmen. Trotzdem war das ein Erlebnis, damals - im letzten Jahrhundert, das ich sicher nicht vergessen werde.
Obwohl - die eigenen Töppen hängen schon längst am berühmten Nagel.
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🎄 Es gab täglich einen OREO
Rolf Scherer
Ich heiße Rolf und habe schrecklich geweint. Eine ganze Reihe von Tagen, damals, 1949, immer nach dem Mittagessen. Ich war gute drei Jahre, und meine Familie hatte aus den USA ein Paket erhalten. Geschickt hatte es Fritz, der Bruder meines Großvaters Alfred. Er lebte seit 1920 in New York und wollte uns in den schweren Nachkriegsjahren, wo es kaum etwas zu essen gab, unterstützen. Dieses Paket barg neben Lebensmitteln wie Mehl, Haferflocken und Dosenwurst einen Schatz in einer braunen Blechdose: einen unvergleichlich süßen, kakaoschwarzen Doppelkeks mit einer weißen Creme als Füllung, einen OREO. Ebendiesen gab mir Mutter nach dem Mittagessen. Immer einen. Er schmeckte einfach unbeschreiblich, so unglaublich fremd und süß. Heute würde ich sagen, ich hätte alles gegessen, wirklich alles, bestimmt auch Spinat, nur um an diesen wunderbaren kakaoschwarzen Doppelkeks mit einer weißen Vanillecreme-Füllung zu kommen.
Doch schlimm genug: eines Tages war die Keksdose bis auf ein paar Krümel leer. Es gab keinen süßen Nachtisch mehr. Wohl nie mehr. Ich bettelte, ich konnte das alles nicht verstehen. Ich weinte bitterlich und wollte nicht einmal mehr mit Pit, meinem Teddy, spielen. Über Tage trauerte ich dem verlorenen Keks nach.
Jahre später, als ich längst diese kleine Kindheits-Episode vergessen hatte und im zünftigen Halbstarkenalter war, erinnerte mich mein Großvater daran. „Du hast bitterlich geweint, du wolltest nichts mehr essen, für dich ging eine kleine Welt unter. Drei Tage lang hast du immer wieder nach deinem Oreo gefragt, gesucht, in jeder Ecke. Und dann hat sich auch deine Welt weitergedreht.“
Ich habe meinen Opa Alfred verstanden. Nichts bleibt wie es ist, wollte er mir sagen. Der Wandel gehört zum Leben, das jeden Tag mit Neuigkeiten aufwartet. Und gleichzeitig wunderbare Erinnerungen bereithält, zum Beispiel die an einen unvergleichlichen Geschmack, den ich wohl immer noch auf der Zunge hätte, der mir aber nie wieder begegnet ist.
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🎄 Ein weises Geschenk
Pfarrer Martin inspizierte die Krippe in seiner Kirche. Er schaute nach, ob ordentlich Stroh im Stall war, Ochs‘ und Esel ihre Plätze eingenommen hatten, das Kamel beim richtigen König stand und die Laterne brannte, die Josef in der Hand hielt.
Der Seelsorger kannte die „Schäfchen“ seiner Gemeinde, insbesondere die vom kirchlichen Beirat: Sie saßen meist in der ersten Reihe und prüften, denn dazu waren sie ja schließlich ausgewählt worden. Und als Erwählte (nein, Gewählte) nahmen sie ihre Aufgabe sehr ernst. Also, wenn etwas nicht ganz so war, wie es die Kirchenordnung vorschrieb - oder was auch immer Menschen sich zur irdischen Regulierung göttlicher Transzendenz haben einfallen lassen - es würde ihnen auffallen - auffallen müssen! Es würde mindestens eine ganze Predigt lang in den Köpfen der auserwählten Schäfchen gewogen und gewälzt und spätestens bei der nächsten Versammlung gerügt werden. Man rügte „ungern“ - angesichts dieser versöhnlichen Einlassung aber erstaunlicherweise doch recht häufig. Verständlich, denn es ging schließlich um nichts geringeres als das Streben nach Unfehlbarkeit, und man liebte es, statt der üblichen eigenen Innenrevision, auch denen Fehltritte nachweisen zu können, die qua Amt der oben genannten Transzendenz näher zu sein schienen. Das, so fand der Pfarrer übrigens, war zutiefst menschlich und damit verständlich. Und er lobte seinen Beirat immer als „das engagierte und notwenige Rückgrat des kirchlichen Corpus Eglesiae der Gemeinde Bramlingen am Bodensee, gewissermaßen eine stabile Achse, auf die die Gläubigen bauen und hocherhobenen Hauptes agieren können“. Das bedeutete aber nicht, daß Pfarrer Martin tunlichst darauf achtete, sich keine ernsteren Nachlässigkeiten nachsagen zu lassen. Auch das war zutiefst menschlich. Nur mal nebenbei, weil das ja eigentlich die Hauptsache ist an Weihnachten: die Geschichte nämlich, wie alles begann mit dem Licht, das in die Welt kam. Also: es war eine wunderschöne Krippe, die dieser Geschichte Gestalt verlieh, mit alten handgeschnitzten, fast lebensgroßen Figuren. Der Stall samt umliegendem Feld mit Hirten, Ziegen und Schafen nahm fast die ganze Breite rechts vom Altar ein. Es schien doch alles in Ordnung zu sein!?
„Der Stern fehlt“.
Der Pfarrer erschrak nun doch: Wie konnte er den Stern vergessen? WIE KONNTE ER DEN STERN VERGESSEN! Die Verheißung des Lichts! Aber gleich darauf beruhigte er sich wieder, denn neben ihm stand kein strafender Kirchenbeirat, sondern Nicki, 13 Jahre, einer seiner treuen Meßdiener. Nicki hielt eine grün-golden verpackte Schachtel mit aufgeklebten Stanniol-Sternen in der Hand.
„ Oh, Nicki, Dich schickt wirklich der Himmel - stell‘ Dir mal vor, wir hätten den Stern über Bethlehem vergessen! Das müssen wir gleich in Ordnung bringen, subito sozusagen, pronto … Aber deshalb bist Du vermutlich nicht gekommen.“
Nicki streckte dem Pfarrer das Päckchen hin:
„Meine Mutter hat gesagt, daß wir in diesem Jahr auf Geschenke verzichten wollen. Sie meint, es ginge uns so gut, da müssten wir nicht auch noch zu Weihnachten was bekommen, wir sollten lieber an die bedürftigen Menschen denken und das Geld spenden, das wir für Weihnachtsgeschenke ausgeben würden. Ich darf also auch kein Geschenk annehmen, und meine Mutter meint, Sie wüßten schon …“
Nun muß man wissen, daß der Hirte von Bramlingen ein recht rebellischer solcher war. Ihm ging es immer ein bißchen mehr um Wahrhaftigkeit und ein bißchen weniger um den Mainstream. Niemals würde er jemandem ein „besinnliches Weihnachtsfest“ wünschen. Er war der Ansicht, besinnlich könnte man auch im Hochsommer sein, wenn’s not täte. Auch „Bücher, die zum Nachdenken anregen“ mochte er nicht - Nachdenken sollte man unbedingt, öfters und auch ohne entsprechende Bücher … Kurz: Ihm war vieles heilig, aber Scheinheiligkeit mochte er nicht. Also schickte er einen stummen Seufzer nach oben:
„O, Herr“, bat er, „gib‘ mir Geduld mit all‘ meinen Schäfchen, die sich manchmal als ausgewiesene Schafe zeigen. Wieso müssen sie sich nun auch noch das Weihnachtsfest schwer machen? Man kann doch seinen Liebsten UND den Bedürftigen eine Freude machen?“ Und er schloß sein stummes Gebet etwas unwirsch: „Warum müssen sich die Hornochsen eigentlich alles, was Spaß macht, vermiesen?
„Wenn ihr euch nichts schenkt, Nicki, woher hast Du dann das Päckchen?“
„Von Frau Lehmann.“ Und zerknirscht setzte Nicki hinzu:„ Ich weiß, ich hätte es ja gar nicht annehmen dürfen, aber sie hat sich so gefreut, mir etwas zu schenken - und ich wollte es eigentlich auch nicht ablehnen, ich kann mir nämlich vorstellen, was drin ist, ich würde mich nämlich auch sehr darüber freuen, und ich dachte, wenn ich was von einem anderen geschenkt bekomme, darf ich es vielleicht behalten ...“ .
Pfarrer Martin mußte sich räuspern und sammeln. In dieser Reihenfolge. Denn es lag echte Tragik in der Geschichte: Das Geschenk anzunehmen hieße, ungehorsam gegenüber der Mutter zu sein. Das kann ein Pfarrer, auch ein rebellischer, natürlich nicht gutheißen, schon aus allgemein pädagogischen Gründen. Es nicht annehmen würde hingegen bedeuten, eine alte Dame zurückzuweisen. Frau Lehmann war über achtzig, lebte alleine mit einer friedlichen Katze und einer nicht gerade üppigen Rente. Nicki brachte ihr täglich die Post und kaufte ab und an für sie ein, weil sie nicht mehr so gut zu Fuß war. Manchmal spielten sie auch Schach zusammen, denn Frau Lehmann war in früheren Jahren Mathematiklehrerin am örtlichen Gymnasium und liebte geistige Herausforderungen, am besten was zum Kombinieren. Es lag also nahe, daß sie sich sehr genau überlegt hatte, womit sie Nicki eine Freude machen konnte … und vermutlich wußte Nicki, was es war, und der Pfarrer wäre kein Seelsorger auf der Höhe seiner Zeit gewesen, wenn er nicht zumindest geahnt hätte, was einem dreizehnjährigen Jungen Freude gemacht hätte.
Mit den folgenden Worten nun begab sich der Pfarrer, wie er wohl wusste, auf dünnes Eis. Also es war nicht gerade so, daß er vom Pfad der seelsorgerischen Tugend abgewichen wäre, aber, sagen wir mal so, er begann, den Pfad etwas zu strapazieren, ihn sozusagen breit wie die First Avenue zu machen. Und so fragte er wie nebenbei:
„Hat Deine Mutter das Päckchen gesehen?“
Nicki sah ihn verwundert an. Als ob das angesichts des vermutlich tragischen Verlusts wichtig gewesen wäre! Aber er gab bereitwillig und freundlich Auskunft, wie es seine Art war:
„Nein, ich hab‘ ihr bloß von einem Geschenk erzählt, und da hat sie mich zu Ihnen geschickt, weil sie meinte, Sie kennen sicher jemanden, der das nötiger braucht als ich, vielleicht ein Kind.“
Ja, der Pfarrer kannte viele Bedürftige in seiner Gemeinde, nicht nur Kinder. Und wenn er für alle Nöte und Leiden Linderung hätte und auf alle Widersprüche des Lebens eine Antwort - ja, dann wäre er wahrlich gesegnet. Rasch blickte er auf die Uhr: Noch sechs Stunden bis zum Gottesdienst. Also, laß’ Dir was einfallen, befahl er sich im stillen - laut sagte er:
„Gut, Nicki, ich werde jemanden finden, zu dem das Geschenk paßt.“
Denn der Pfarrer war der Meinung, daß man Geschenke nicht willkürlich umherstreuseln kann wie Konfetti. Geschenke kommen vom Herzen, und dem kann man bekanntlich nichts befehlen. Solche Gaben gehören deshalb zu dem, für den sie bestimmt sind - wie weiland Gold, Weihrauch und Myrrhe für das neugeborene Kind im Stall von Bethlehem.
Nicki allerdings war etwas verwundert: Wie konnte der Pfarrer jemanden finden, der zu dem Geschenk paßt, wenn er gar nicht wußte, was in dem grün-goldenen Päckchen war? Aber er machte sich keine großen Gedanken darüber, der Umgang mit den Pfarrern hatte ihn gelehrt, daß bei denen nicht immer alles logisch zuging.
Der Heilige Abend brach an, die Gläubigen (und solche, die es noch werden wollten) kamen mit ihren Familien zum Gottesdienst, die Weihnachtsgeschichte wurde gelesen, „Macht hoch die Tür“ gesungen - ja und nun hätte eigentlich das „Stille Nacht“ kommen müssen. Aber stattdessen kam der Pfarrer und erinnerte - in einer bisher nie da gewesenen zweiten Predigt sozusagen - an die Weisen aus dem Morgenland, die die Kunst erfunden haben, Geschenke zu machen. Und er bat alle Kinder - es war eine überschaubare kleine Schar in seiner kleinen Gemeinde - sich vor der Krippe (natürlich mit Stern!) aufzustellen, weil gleich der Weihnachtsmann jedem Kind ein Geschenk übergeben würde ... symbolisch sozusagen, in der Tradition der Heiligen Drei Könige, die man damit fortführen wolle in der kleinen Gemeinde Bramlingen am Bodensee, heute und in den folgenden Jahren ...
Ein paar Stunden später saßen der Pfarrer und der Messner - er hatte netterweise den Weihnachtsmann gespielt - bei einem Glas samtigen Rotweins und Zimtsternen (selbstgebackenen, beides übrigens Geschenke vom Kirchenbeirat) beieinander und freuten sich noch nachträglich über die Verwunderung der Gemeinde und die Freude der Kinder, insbesondere über einen komplett verwunderten Nicki, der ein grün-goldenes Päckchen erhalten hatte. Alle anderen waren übrigens rot-golden, aber das fiel keinem auf, jeder war restlos mit der Einführung dieses überraschenden Rituals beschäftigt.
Obwohl doch das Schenken am 24. Dezember mit immerhin 2017 Jahren eine durchaus lange Tradition hat …
Gerdi, Immenstaad 2017
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🎄 Zigaretten für den Schutzmann
Paul de Fries
Die kleine Geschichte, die ich erzählen will, spielte Weihnachten 1954 an der Kreuzung Albrecht- und Sedanstraße im Berliner Bezirk Steglitz, im ehemaligen amerikanischen Sektor der geteilten Stadt.
Ich hatte meinen Vater, der in einem neu eröffneten Geschäft als Friseur arbeitete, am Nachmittag von der Arbeit abgeholt. Heiligabend fiel auf einen Freitag, und wir schritten zügig durch tanzende Schneeflocken die Albrechtstraße hinauf. Mein grauer Wollmantel war ein wenig zu groß, aber praktisch, weil es noch Platz hatte für einen warmen Pullover, den meine Oma mir gestrickt hatte. So fror ich, die Mütze über beide Ohren, kein bißchen bei dem feuchtkalten Dezemberwetter.
Ein wenig mußte ich mich jetzt schon beeilen, denn mein Vater machte große Schritte, weil er noch den Christbaum putzen mußte. Nach Hause waren es immerhin fast dreißig Minuten, und ein Auto besaßen wir nicht. So steuerten wir auf die Kreuzung zu, in deren Mitte ein Schutzmann in seinem graublauen Uniformmantel stand und den Verkehr regelte. Um gut gesehen zu werden, hatten seine Unterarme weiße Überzüge, wie Stulpen. Und er stand auf einer erhöhten, runden Plattform, die er zu Beginn seines Dienstes auf die Mitte der Kreuzung rollte. Wir sagten hierzu Elefantenfuß.
Mit ausgebreiteten Armen ließ er den den Verkehr fließen oder stoppen. Ein erhobener Arm bedeutete Achtung für beide Straßenzüge. Man muß wissen, daß damals belebte Straßenkreuzungen häufig einen Schutzmann hatten, der dafür sorgte, daß Autofahrer und Fußgänger gleichermaßen zu ihrem Recht kamen. Zebrastreifen gab es zu dieser Zeit noch nicht, und die Straßen füllten sich erst langsam wieder mit Fahrzeugen aller Art. Ampeln waren noch selten und besonders stark befahrenen Straßenzügen vorbehalten.
„Das ist der Herr Sawitzke“, sagte mein Vater, auf den Polizisten deutend. „Er kommt regelmäßig zu mir zum Haareschneiden.“ Ich schaute hinüber und staunte: Da hielt gerade ein grüner VW Käfer, obwohl er freie Fahrt hatte. Die Fahrerin kurbelte das Fenster herunter und stellte dem Schutzmann eine bunt eingepackte Flasche auf seine runde Plattform. Unser Steglitzer Schutzmann legte die Hand an seine Mütze, lächelte und verbeugte sich leicht. Der blaue Borgward Isabella hinter dem Käfer und ein Oberleitungsbus warteten geduldig, bis die Flasche unbeschadet abgestellt war. Schließlich war Weihnachten und Zeit zum Dankesagen für den Dienst an der Gemeinschaft bei Wind und Wetter, Regen und Schnee. So hatten sich bereits mehrere kleine Päckchen beim Polizisten Sawitzke angesammelt. Und auch mein Vater hatte an das Auge des Gesetzes gedacht. Er eilte bei Achtung, als alle Seiten hielten, zu seinem Kunden und schenkte ihm eine Schachtel Zigaretten. Zurück und mit mir auf dem Weg nach Hause verriet er schmunzelnd: „Ich kenne seine Marke. In der Werbung sagen sie: Aus gutem Grund ist Juno rund.“
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🎄 Speerweg: Unter Menschen
Heinz Frantzen
Wir wohnten einst im äußersten Teil Berlins, in Sichtweite der Mauer, die uns Inselbewohner einschüchtern sollte, es aber nie geschafft hat. Stadtgeschichtlich war es ein recht junger Wohnsitz, denn erst nach 1910 wurde hier nach und nach eine Gartenstadt errichtet. Modern, eher einfacher gehaltene Häuser, viel Grün, eine Invalidensiedlung für die Versehrten des Ersten Weltkriegs und Ihre Familien. Zur nächsten Bushaltestelle lief man von uns aus zehn Minuten, Gehwege gab es in unserem Sträßchen nicht, auch keinen Winterdienst des Bezirks. Es war eine Idylle mit Vorbehalt. Für eine eingemauerte, pulsierende Großstadt, in der wir „Insulaner“ meist auf engstem Raum lebten, ein eher seltener Ort.
In unserer Stichstraße nun kannte man sich, besuchte sich bisweilen und half einander, wenn das hier so wichtige Auto mal wieder nicht ansprang oder in einer Schneewehe, was auch schon vorkam, einfach steckengeblieben war.
Einen engen Kontakt zu unserem Gegenüber, dem Apotheker Müller, gab es eigentlich nicht. Wenn wir uns zufällig vor dem Haus begegneten, unterhielten wir uns über dies und das, die aktuelle Politik, die kleinen Wehwehchen, die Eigenarten seines sehr lebendigen Dackels. Gelegentlich auch über das Hobby seiner Frau Gabriele, die wunderschöne Landschaftsbilder malte, aber aus gesundheitlichen Gründen selten das Haus verließ. Ein kleines Aquarell märkischer Weite schenkte sie uns einmal; ein stimmungsvolles, farbenfrohes Frühlingsbild, das wir umgehend einrahmen ließen.
Eines Nachts, ich war zufällig wach geworden, sah ich im dichten Schneegestöber einen Rettungswagen vor dem Haus der Müllers stehen. Eine Person wurde auf einer Bahre hinausgetragen. Tags drauf versuchte ich, mit Müllers zu sprechen, ob sie irgendwelche Hilfe benötigten, aber niemand öffnete. Den Apotheker traf ich erst in der Woche drauf, und bruchstückhaft, von Schluchzen unterbrochen, erfuhr ich vom jähen Tod seiner geliebten Frau. Was für ein schwerer Schlag für eine so lange, glückliche Ehe. Ich sagte ihm zu, daß meine Frau und ich, wo immer wir könnten, helfen würden.
Die Tage wurden kürzer, die Temperaturen sanken weit unter Null, und Weihnachten stand vor der Tür. Für unseren Nachbarn die erste, sicher schmerzliche Weihnacht ohne seine Gabriele. So fragten wir ihn, ob er mit uns zu Heilig Abend essen würde. Es gäbe Würstchen und Kartoffelsalat, bei uns beiden eine alte Tradition. Dazu ein gutes Gläschen Wein und das Weihnachts-Oratorium. Herr Müller bedankte sich und versprach zu kommen.
Lange saßen wir an diesem Abend beisammen, sprachen über unser Leben, die jungen Jahre. Er erzählte von seiner Hochzeit mit Gabriele, kurz nach Kriegsende 1947. Von Not und Aufbau, Bescheidenheit und Fleiß, vom ersten Auto und von den gemeinsamen Schritten in die Selbständigkeit. Von seiner Apotheke und Erfahrungen mit der Kundschaft auf dem südöstlichen Kiez von Berlin. Wir gingen zum Du über und versprachen, uns öfter zu treffen.
Monate später dankte uns Kurth, unser Apotheker, einmal für diesen ganz besonderen, gemeinsamen Abend im Dezember. Er hatte sich gefürchtet vor diesem Tag, dem ersten Heiligen Abend, ohne seine Gabi. Keine selbstgebackenen Zimtsterne, die sie immer auf den Tisch gestellt hatte. Kein Oh du Fröhliche aus dem alten Grammophon, wenn sie mit einem Silberglöckchen zur Bescherung rief. Keine Kerzen am Baum. Überhaupt kein Baum - wozu auch.
Kurt hatte Angst vor der Einsamkeit, vor Hoffnungslosigkeit und Leere. Die Straße seines Lebens, fühlte er, verschwinde im Nebel. Und er wisse nicht, was er dagegen tun könnte. Und dann kam diese Einladung. „Danke euch vielmals“, sagte er.
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The following text was taken from the biography: Giselle Braeuel: Growing up in Volmarstein, Gilmore Doculink, Canada, 2011
With the kind permission of Giselle Braeuel, Kanata/ Ontario, 2020. Thank you, Gisela!
„Keep the shop and the shop will keep you.“ Ben Jonson
🎄 Christmas in the Drugstore
Giselle Braeuel, Kanata/ Ontario, 2020
Show me any retail store, and I will tell you that the owner does not have a Christmas of the peaceful kind, of the kind where you become reflective and contemplate the real meaning of that holiday.
No, it’s usually the busiest time of the year, the time where most of the retail industry now makes seventy percent of the year’s turnover.
Well, in those days it wasn’t quite that hectic but, by golly, we were busy. Beside three other employees, Gustav, Klaus und Käthe, there were my parents, my brother, my sister and myself. You see, in those days you were not asked: „My child, what would you like to be?“ It was understood, in moste cases, that you went into the business of your parents. In our case we all became druggists.
On Christmas Eve day my dad used to check the cash register every half hour, an anxious smile on his face.Had we reached last year’s total yet? Yes, we always had. And then his eyes shone with pleasure: „Hey, guys, we are over!“ It was healthy to grow. „Standing still is going backwards,“ he used to say. He was happy, and the rest of the family was too because he was. It really seemed that everybody in our small town waited with their Christmas shopping until the last day. You see, we are talking about many, many years ago, when presents, compared to today, were of a more modest nature. And a drugstore, the store of the thousand articles, as ist was called, was the ideal place to shop.
The old-fashioned German drugstore carried everything a drugstore carries now (except that ist did not dispense prescription drugs) however the selections were much smaller. In addition we had a liquor section, a wine cellar and a camera department with a finishing lab attaches. Perfume, cosmetics, a great bottle of brandy, all these made excellent gifts.And not to forget the necessities like, film, candles, Christmas tree decorations and similar items. In other words, business was wonderful, and excellent service was given. My dad saw to that. There we all stood in freshly starched, white coats, passing merchandise - self-help was unknown - over the counter: efficiently, smiling, knowing by name almost every single customer.
It was non-stop from the time the store opened. No scheduled breaks were possible. However in the back was a table covered with absolutely delicious snacks which we enjoyed on the run, swallowing them real fast because you couldn’t serve the customers with your mouth full or chewing on something.
When 6 p.m. finally arrived, we were all near exhaustion and far from experiencing those peaceful Christmas feelings. But threatening in the distance was midnight mass. Came hell or high water, my father would not think of ever missing ist. What would people say if our family didn’t show up in church? Looking back I think they would surely have survived it. I sometimes suspected him of putting his customers ahead of his own family. But then again ist was a small town and they were our livelihood.
Between store closing and midnight mass happened a good meal of the traditional carp and the exchanging of the gifts.Carp wasn’t my favo rite food, I enjoyed the goose on Christmas Day much more. The gift exchange, to be honest, wasn’t a source of cheer joy either. While we were all singing our hearts around the tree - the custom before the gifts were opened - the door bell would at least ring twice, interrupting the festival atmosphere.
My dad, trying to please, as usual, would stop right in the middle of „Silent Night“, or whatever we happened to be singing and ignoring our protest, go downstairs into the shop. All this with a smile on his face, as was his style and the reason for his immense popularity. Usually someone’s tree had fallen over, and the decorations needed to be replaced. Or someone had forgotten to buy films, or a baby bottle had broken which in those days was made of glass. Or someone had a terrible headache, needing pills.
However, if this sounds like a not very Christmassy Story, to make up for that one hectic festival, there were wonderful birthdays, Easter celebrations, the nearness of many relatives and in general the feeling of belonging to a good, close-knit family which gave me the foundation on which to build the rest of my life.
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🎄 Eine Taxifahrt am Heilig Abend
Rolf Scherer
Als mein Freund Pit hörte, daß wir vom www.textangler.de Weihnachtsgeschichten zum Thema hatten, rief er mich aus dem fernen Berlin gleich an. Pit, mit bürgerlichem Namen Peter Mellitzky, war lange Jahre Taxifahrer in der geteilten Stadt, bis er kurz vor der Wende umsattelte und einen florierenden Fuhrbetrieb (Gemüse, frisch vom Acker) gründete.
„Hör zu, Rolf. Du weißt doch, daß ick im Schreiben nich so zuhause bin. Aber ick könnte dir doch die Jeschichte erzählen. Die is doch so schöön!“
Ich ließ mich gern darauf ein. Also denn - hier ist Pits Weihnachtsgeschichte. Sie spielt im Jahr 1973, dem Jahr der Ölkrise und des Jom-Kippur-Krieges. Als die Erdöl exportierenden Staaten ihre Produktion drosselten und Deutschland als Reaktion darauf vier autofreie Sonntage anordnete. Außerdem wurde 1973 Jan Ulrich geboren.
Im Rückblick war 1973 für Pit ein verrücktes Jahr. Gesundheitlich lief nicht alles so, wie es sollte. Er wurde zum ersten Mal Vater, ein Umzug von Britz nach Charlottenburg in den engen Mauern West-Berlins war zu stemmen. Zudem mußte er sich häufiger um seine Eltern in Kassel kümmern, die ihr kleines, renovierungsbedürftiges Reihenhaus mit Gärtchen verkaufen wollten. Ja - und schließlich noch Taxe fahren und Geld verdienen. Da blieb ihm nichts weiter übrig, als im Herbst von der Tag- auf die Nachtschicht umzusteigen. So verdiente man besser, setzte aber das Familienleben mit seiner Bärbel und dem Neuankömmling Niko gewissem Streß aus. Manchmal, wenn wir uns damals trafen, erinnere ich mich gut an seine Einleitung: „Du, Rolf, ick habe jewisse Probleme.“
Und problematisch war es schon einmal, wenn der junge Vater Pit abends gegen Fünf in seine Taxe stieg, um morgens früh nach Hause zu kommen. Der familiäre Rhythmus bekam eine jewisse Unwucht, zumal Niko, ein liebenswerter, kleiner Wonneproppen, tagsüber viele wache, lautstarke Momente hatte.
Heilig Abend fiel dieses Jahr auf einen Montag, und der Haussegen hing schon länger ein ganzes Stück weit schief. Denn Pit mußte auch heute raus, auf die Taxe, lukrative Fahrten winkten. Viele Berliner verzichteten bei den Feierlichkeiten gern aufs eigene Auto. Und die Stadt war groß, Entfernungen weit. Da gab es schon öfter Touren von 15, mal 20 Kilometern, die bis 25 DM oder etwas mehr bringen konnten. Einnahmen, die in Kollegenkreisen Schnitzel hießen. Koteletts gingen bei 10 DM los.
Und da war an diesem Heiligen Abend diese Fahrt in Neukölln. Eine freundliche, alte Dame wollte zur besten Zeit für Bescherungen, für Weihnachtslieder und Geschenke, von der Weser- zur Britzer Jupiterstraße, einer Laubenkolonie. Pit hatte heute schon bessere Fahrten gehabt, aber - was soll’s, er fuhr seinen Fahrgast das kurze Stück, keine zehn Minuten waren es.
Am Ziel angekommen entschuldigte sich sein Fahrgast nach langem Suchen in der Handtasche, sie müsse die Geldbörse wohl zu Hause liegengelassen haben. Sie wolle sie kurz holen und stieg aus. Meinem Freund Pit kamen Zweifel, ob er seinen Fahrgast je wiedersehen würde. Die Lauben lagen zumeist im Dunkeln und die Minuten verstrichen. Hier und da gab es in den bescheidenen Gartenhäuschen auch Licht. Sie waren bewohnt, auch im Winter, und Kerzen standen in manchen Fenstern. Die Schneehauben auf den kahlen Ästen der Obstbäume glitzerten im Scheinwerferlicht des wartenden Taxis. Wenigstens ein bißchen Weihnachtsstimmung.
Pit wollte gerade losfahren, da klopfte es plötzlich an sein Fenster. Pit kurbelte die Scheibe herunter, und da stand die alte, freundliche Dame und reichte ihm die Fahrtkosten, 4,30 DM und eine Tüte. „Sie müssen entschuldigen. Ich kann ihnen leider kein Trinkgeld geben. Aber hier sind ein paar selbstgebackene Kekse. Und auch noch ein schönes Stück Mohnstrudel. Das Rezept habe ich von meiner Mutter aus Ostpreussen. Er wird ihnen schmecken.“
Als Pit gegen 23 Uhr die Taxe vor seinem Mietshaus abstellte, sah er noch Licht am Fenster. Bärbel wartete. Sie zündete einige Kerzen am Weihnachtsbaum an, Pit erzählte seine Geschichte und sie aßen vergnügt Kekse und lobten den Kuchen. Ganz leise, um Niko nicht zu wecken an seinem ersten Heilig Abend.
Das war nun Pits Geschichte, liebe Leser. Er hofft, daß sie den Textanglern gefallen wird.
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🎄 Im Tierheim
Paul de Fries
Ich heiße Lumpi und bin ein mausgrauer Rauhhaardackel in den besten Jahren. Meine Vorfahren waren früher häufig bei Jägern beschäftigt und krochen in Fuchslöcher und Dachsbauten. Das war ihr Job, hat wohl auch häufig Spaß gemacht, war aber nicht ganz ungefährlich. In meinen Generationen hat sich das Aufgabengebiet deutlich gewandelt. Wir lassen den Fuchs und seine grabenden Kollegen in Ruhe und kümmern uns mehr um Herrchen oder Frauchen, daß sie noch ein bißchen Auslauf haben und nicht so viele Pfunde ansetzen. Wir sind nämlich ideale Begleiter. Ziehen hierhin und dorthin, und wenn wir von der Leine gelassen werden, nehmen wir ein bißchen Reißaus, damit unsere Besitzer mal so richtig außer Atem kommen beim Hinterherlaufen.
Außerdem sind wir unbedingt fotogen. Kaum jemand kann uns böse sein, denn bei unserem Blick schmilzt fast jedes menschliche Wesen einfach dahin. Und dann gibt es ein Extra-Würschdle, was immer gern genommen wird.
Wir wollen uns schließlich nicht selber loben, aber wir sind auch gehorsam - bis zu einem gewissen Grad. Was artfremde Anforderungen betrifft, Kunststückchen und so, dafür gibt es andere Rassen, die jeden Quatsch mit sich machen lassen. Nein, ein Zirkushund sind wir nicht. Kein Dackel würde da mitmachen. Und auch bei „Sitz, Fuß und Platz“ hat so mancher meiner Kollegen ein kleines Problem. Jedoch - im großen und ganzen funktioniert unsere Symbiose mit dem Menschengeschlecht recht passabel. Gang grundsätzlich hören wir auf ihn, und er hört auf uns.
So, jetzt wissen sie, mit wem sie es zu tun haben. Und weshalb ich mich so ausführlich äußere, hat einen einfachen Grund: Wir haben in ein paar Tagen Weihnachten. Und ich liege auf meiner roten Platzdecke vor dem Schreibtisch von meinem Frauchen, die hier auf der Alb im hintersten Donauwinkel die Chefin vom Tierheim ist. Wenn jetzt ein Besucher kommt, der nach einem Hund Ausschau hält, dann begleite ich sie und helfe ihr bei der Vorstellung unserer Schützlinge. So wie gerade eben. Da kam ein tieftrauriger Mensch, Bauer Martin hat sie ihn genannt, dem gerade sein treuer Dackel, fast 17jährig, verstorben war. Noch vor dem Heiligen Abend wollte unser Gast nach einem neuen Begleiter Ausschau halten. Er wohnte weit außerhalb des Dorfes in der Einsamkeit, und auf seinem Hof gab es immer einen Vierbeiner. Wächter, Begleiter, Gesprächspartner und Schicksalsgenosse in einer Person.
Das war jetzt mein Auftritt. Ich konnte ja helfen und begleitete Bauern und Frauchen zu unseren drei Neubewohnern im Tierheim, Dackelwelpen, die sie liebevoll mit der Milchflasche aufzog, weil die Mama überfahren worden war. Mit der Nase auf der Erde und ziemlich unbeteiligt nahm ich die Rasselbande in Augenschein. Mein Verstand sagte mir, daß ein Rüde am besten zu Bauer Martin und seiner Einsamkeit passen könnte. So stubste ich ein hellgraues Wollknäuel ein wenig an und flüsterte ihm in unserer Sprache etwas ins Ohr. Schon erhob sich der kleine Kerl auf seinen krummen Beinchen, schniefte lustig und machte sich an den Schnürsenkeln seiner möglichen Herrschaft zu schaffen. „Wie mein Flori“, rief dieser hocherfreut. „Das gibt es doch gar nicht - wie mein kleiner Flori!“
Mehr war nicht zu tun. Hund und Herrchen hatten sich gefunden. Meine Chefin kraulte mich hinter dem linken Ohr, eine Geste, die ich absolut gern habe und immer als Auszeichnung verstehe.
Ach ja! Als Bauer Martin und Flori Zwei gegangen waren, gab es ein extragroßes Würschdle. Das war auch verdient. Jetzt konnte Weihnachten kommen.
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This is Christmas-Time!
von: Vox Vulgi
When the last Kalender-sheets, flattern through the Winter-streets,
and Decemberwind is blowing, then is everybody knowing,
that is not allzuweit: she does come the Weihnachtszeit.
All the Menschen,Leute, people, flippen out of ihrem Stübel,
run to Aldi, Kaufhof, Mess, make Konsum and business,
make this and jenes Dings, and the churchturmglocke rings!
Manche holen sich a Tännchen, when this brennt, they cry Attention!
Rufen for the Feuerwehr:Please come quick and rescure her!
Comes the Tännchen of in Rauch, they are standing on the Schlauch.
In the kittchen of the house, Mother makes the Christmasschmaus.
She is working, schufting, bakes, it is now her Yoghurtcakes.
And the Opa says als Tester: We are killed bis zu Sylvester!
Then he fills the last Glas wine, yes, this is the Christmastime.
Day by day does so vergang and the holy Night does come,
you can think, you can remember, this is immer in December!
The animals all in the house, the hund, the Katz, the bird, the mouse,
are turning round the Weihnachtstree, enjoy the day as ever nie,
weil they find Kittekat und Shappy, im Geschenkkarton von Pappi.
The family begins to sing and wieder does a Glöckchen ring,
Zum Song vom grünen Tannenbaum, die Tränen rennen down and down,
bis the mother plötzlich flennt:die Gans im Ofen is verbrennt!
Because her nose is very fine, wie jedes Jahr zur Christmastime!
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